Kapitel 32

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•zweiunddreißig•

"Weißt du, Liah, ich glaube daran, dass der zweite Teil einer Seele überall auf der Welt sein kann. Was wäre es denn für eine einfache Aufgabe, wenn man nur um die Ecke einer Straße schauen müsste? Lächerlich, so denke ich, wäre die beste Beschreibung dafür, findest du nicht auch? Oder nein, eher zu einfach und wie du weißt, mag ich das Einfache nicht."

AUFGABEN, WIE PRUDENCE diese kleinen verzwickten Rätsel immer liebevoll beschrieben hat, waren ihrer Ansicht die schönen Dinge, die das Leben so lebenswert und einzigartig machen. Für sie fielen Mathematik und Physik-Aufgaben ebenso wie auch eine Schnitzeljagd unter diese Rubrik. Wobei ich mich mit letzteren eher identifizieren kann.

Ich würde gerne behaupten, dass das eigentliche Lösen von Rätseln auch zu ihren Lieblingsbeschäftigungen zählte, jedoch war Prudence viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Aufgaben für andere zu verfassen, die meist erst auf den zweiten und dritten Blick einen Sinn für mich ergaben.

Und manche waren so rätselhaft, dass ich sie bis zum jetzigen Zeitpunkt noch immer nicht verstanden habe.

Manchmal hatte sich Prudence so sehr in das Verfassen eines Rätsels hineingesteigert, dass man meinte, sie würde Teil der Aufgabenstellung sein oder man müsste zuerst den Mensch Prudence lösen, ehe man sich an das Rätsel heranwagen durfte.

Und manchmal war sie so wütend auf ein Rätsel, dass sie das Papier, auf welches es gedruckt war in einzelne kleine Teile zerriss und auf den Boden pfefferte, nur, um die Teile anschließend wieder sorgfältig zusammenzukleben.

Das waren diese ganzen kleinen Besonderheiten, die Prudence ausmachten.

'Das war keine Frage, Liah', lächelte Prudence, sodass mich ihre schönen geraden Zähne nur so anstrahlten. Erst als ich stumm auf die Wasseroberfläche starrte und die lauten Stimmen der übrigen Badegäste nach und nach verstummten, wurde mir bewusst, dass ich meine Lebensaufgabe noch nicht gefunden hatte. Zudem war ich zu diesem Zeitpunkt gerade erst sechzehn Jahre alt geworden. Und welche Aufgabe, könnte ein sechzehnjähriges Mädchen schon großartig erfüllen.

'Wir sind doch noch viel zu jung, um uns darüber Gedanken machen zu müssen, welche Aufgabe wir im Leben haben', antworte ich Prudence, doch irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass Prudence meine Antwort nicht hören wollte.

'Sind wir das?', stelle sie mir als Gegenfrage und stütze sich ebenfalls am Beckenrand ab. Ihr pinker Bikini beleuchtete einen großzügigen Fleck des Wassers und zog meinen gedankenverlorenen Blick auf sich.

Ich nickte leicht, obwohl ich mir in diesem Moment unsicher über meine Aussage war. Prudence verunsicherte mich mit ihren ständigen Gegenfragen. Obwohl ich mir sicher war, dass Prudence ganz und gar nicht die Absicht hatte, mich zu verwirren, machte sie es immer wieder.

'Ich glaube, dass ich am besten Weg bin, meine erste Aufgabe zu erfüllen', grinste Prudence und stieß sich zurück in das Wasser. Rücklings ließ sie sich treiben, ehe sie erneut zu mir zurückkam. 'Menschen ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, steht nämlich schon lange ganz weit oben auf meiner Aufgabenliste.' Prudence blickte sich um.

'Siehst du den kleinen Jungen da drüben?' Meine beste Freundin deutete auf einen drei, vielleicht vierjährigen Jungen in quitsch-gelber Schwimmhose mit blauen Punkten und einem Wasserball in der Hand. 'Würden wir beide jetzt eine Wasserschlacht beginnen, würde er lachen anfangen.' Obwohl Prudence keine Geschwister hatte, wusste sie genau, wie sie kleine Kinder zum Lachen bringen konnte. So war es auch mit meinem kleinen Bruder Finn gewesen, der sie schon als zweijähriger in sein Herz geschlossen hatte.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt