Kapitel 9

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•neun•

Wenn du nie etwas Neues versuchst, wirst du nie wissen, ob es dir am Ende gefallen hätte. Ich möchte alles ausprobieren und hinterher kann ich immer noch entscheiden, was ich machen möchte und was nicht. Du solltest auch beginnen über deinen Tellerrand zu blicken und neue Dinge wagen. 

        NERVÖS STAND ICH vor dem riesigen grauen Firmenkomplex und betrachtete die hineinströmenden Männer, mit pechschwarzen Anzügen und schreienden Krawatten in allen erdenklichen Farben, und Frauen mit knappen Röcken und viel zu  hohen Schuhen.

        Prudence jedoch hätte diese Art von Schuhen geliebt, auch wenn sie nicht wirklich geübt darin war, auf ihnen wie eine Gazelle zu stolzieren. Ihr Gang erinnerte meistens an den eines Trampeltieres. Sie hatte einen ganzen Schrank mit unterschiedlichen hohen Schuhen.

        "Mrs. Brixton?", fragte mich plötzlich eine Frau mittleren Alters mit einer auffälligen pinken Bluse und kam mit ihren Stöckelschuhen auf mich zu. Die Falten in ihrem Gesicht waren trotz der Tonnen an Makeup, das sie trug, nicht schwer zu erkennen. Sie sah mich mit einem genervten Gesichtsausdruck an.

        Auf eine gewisse Weise hatte sie Ähnlichkeiten mit meiner alten Mathematiklehrerin, die im Gegensatz zu dieser Frau, von der ich den Namen nach wie vor nicht kannte, freundlich war.

"Ja?", fragte ich und räusperte mich, da meine Stimme leicht kratzend war. Ich schenkte ihr ein leichtes Lächeln, jedoch sah sie es nicht für nötig, mir ihren Namen zu verraten. Ihr Blick fiel auf ihre goldene Armbanduhr. 

        "Sie werden bereits von Mr. Tomlinson in seinem Büro erwartet", sagte sie monoton und deutete auf die große Glastür, die als Eingang für Mitarbeiter und Besucher diente. Ich nickte. "Wo finde ich Mr. Tomlinson?", fragte ich und sah wie sie ihre Augen überdrehte. Innerlich hoffte ich, dass sie ihr eines Tages stecken bleiben würden, doch natürlich war auch schon dieser Gedanke mehr als bösartig.

         "Stock drei, Zimmer 500. die erste Türe links", informierte sie mich und ging voraus durch die Schiebetür in den Firmenkomplex und drehte sich kein weiteres Mal zu mir um. 

        'Wieso können Sie mir keine Auskunft über den Gesundheitszustand meiner besten Freundin geben?', schrie ich die junge Krankenschwester an, die mit jedem Schritt, den ich ihr folgte, ihre Augen weiter überdrehte. 'Weil sie keine Familienangehörige sind', sagte sie und schenkte mir ein gespielt-freundliches Lächeln. 

        'Ich bin aber ihre beste Freundin', schrie ich abermals und erntete einen erschrockenen Blick eines kleinen Mädchens mit einem Teddybären. 'Es ist mir egal wer oder was Sie sind...', die Frau drehte sich um und lies den Stapel mit den Handtüchern fast auf den Boden fallen, '...Sie haben kein Recht über den Gesundheitszustand ihrer Freundin', sie setzte das Wort Freundin in Anführungszeichen und sah mich mit einem abwertenden Blick an, 'zu bekommen. Warten Sie bitte bis die Eltern kommen und sprechen Sie mit ihnen', schnauzte sie und lies mich im Gang inmitten von bunten Bildern stehen. 

         "Hier", sagte die Frau, die sich als Empfangsdame entpuppte und zeigte auf einen Lift. "Dritter Stock, Zimmer 500, erste Türe links", sagte sie erneut und drückte den dicken runden Knopf. "Danke", murmelte ich und schenkte ihr ein leichtes Lächeln, welches sie jedoch wieder nicht erwiderte. Das mulmige Gefühl in meinem Magen wurde mit jedem Schritt, den ich dem dritten Stock näher war, mehr. 

        Mit einem lauten Gong sprang die Türe des Lifts auf und in diesem Moment wurde es mir erst so richtig bewusst, dass ich nur mehr wenige Schritte von meinem Praktikum entfernt war. Mit jedem Schritt, den ich über den frisch gesaugten Teppichboden schritt, stieg die Angst in mir weiter, dass ich am Schluss versagen könnte und Australien verlassen müsste, ohne auch nur einen Punkt von Prudence' Liste erfüllt zu haben.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt