Kapitel 34

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•vierunddreißig•

"Du kannst sie auf Papier aufschreiben, auf Leinwänden aufmalen oder auf Kassetten aufnehmen. Doch nichts von alldem gibt dir die Sicherheit für die Ewigkeit, denn diese gibt dir nur deine Erinnerung."

"Still und heimlich habe ich einen jeden einzelnen von euch beobachtet. Aus sicherer Entfernung bin ich dagesessen auf dieser harten, hölzernen Bank und habe euch beim Spielen zu gesehen.

Auch dir, Liah.

Wie du ständig diese eine Puppe mit den roten, geflochtenen Haarzöpfen in die Luft geworfen und danach so laut gekichert hast, als du sie wieder fest in deinen Armen hieltest. Deine Freundinnen haben es dir aber nie nachgemacht. Hatten sie Angst, dass ihre Puppen in den Schlamm fallen würden?

Ehrlich gesagt, ich hätte gekichert, still aber trotzdem herzhaft.

Ich mochte sie nicht.

Keine von ihnen.

Weder Isabelle noch Grace.

Sie sahen immer so perfekt aus mit ihren schönen Rüschenkleidern und den perfekt gekämmten Haaren. Wie lebendige Puppen. Kannst du dir vorstellen wie schäbig ich mir in ihrer Gegenwart immer vorkam? Wie eine dieser kaputten Puppen, die man einfach auf den Müll wirft und gegen eine neue ersetzt. Ich wollte aber nie eine dieser Puppen sein. Ich passe einfach nicht in diese perfekte Welt. ICH HABE HIER NICHTS ZU SUCHEN, UMGEBEN VON DIESEN PUPPEN.

Erst letzte Woche habe ich ein Gespräch zwischen meiner Mum und den Ärzten belauscht. Und kannst du dir vorstellen, was sie gesagt haben?

Ich würde leichte Anzeichen einer Depression aufweisen.

Doch die eine Oberschwester war der Meinung, es würde sich hierbei um Nebenwirkungen dieser verdammten Tabletten handeln. Aber soll ich dir ein Geheimnis verraten?

Ich nehme sie nicht.

Keine dieser Tabletten schlucke ich. Sie werden mich sowieso nicht retten.

Also gibt es keine Nebenwirkungen. Und das heißt, ich bin depressiv. Ganz einfach. Ich nehme es so hin. Und ich werde sterben. Ganz einfach. Und das nehme ich auch so hin.

Weißt du was ich aber nicht so einfach hinnehme, Liah? Wieso hast du dich damals mit mir angefreundet, obwohl du Isabelle und Grace hattest? Wieso wolltest du mit mir befreundet sein? Mit mir?

Wieso sind wir Freundinnen?

Wieso gibst du dich mit mir ab?

Du könntest jetzt auf einem dieser Colleges sein, mit ihnen die neuesten Trends shoppen und euch gegenseitig die Nägel in allen möglichen Farben lackieren.

Warum kommst du jeden Tag zu mir ins Krankenhaus? Auch, dann wenn ich zu schwach bin, um mit dir zu sprechen?

Du solltest nicht dieses Leben leben, Liah. Du solltest Abenteuer erleben. Was willst du deinen Kindern einmal erzählen, wenn sie dich fragen, was du mit neunzehn Jahren erlebt hast?

Wirst du ihnen dann von mir erzählen und ein Lächeln auf deinen Lippen haben?

Es tut mir so leid, dass ich dir nicht diese Erinnerungen bieten kann, die ich dir so gerne geben würde. Du hättest es verdient, aber jetzt ist es zu spät. Die Uhr tickt nicht mehr; auch mit einer neuen Batterie würden sich die Zeiger kein Stück bewegen.

Und es ist meine Schuld.

Ich hätte niemals in diesem Kinderzentrum auftauchen dürfen. Wir würden keine Freundinnen sein und ich würde dir keinen Kummer bereiten.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt