Kapitel 12

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•zwölf•

Wenn du dich dazu entschlossen hast deine eigene Geschichte auf ein leeres Blatt Papier zu schreiben, verlange ich von dir, dass du niemals den Stift aus deiner Hand gibst. Niemand, auch wenn diese Person es noch so hart versucht, könnte jemals dieselben Zeilen schreiben, die du schreiben möchtest. 

        DER NEOPRENANZUG KLEBTE an mir wie eine zweite dünne Hautschicht. Ich hatte mein ganzes Leben damit verbracht mich gegen diese Anzüge zu sträuben, doch um ehrlich zu sein, fühlte es sich nur halbwegs so schlimm an, wie ich es immer gedacht hatte. Prudence hatte Recht damit gehabt, dass man sich in diesen Anzügen noch immer frei wie ein Vogel fühlen konnte, auch wenn er an der Haut klebte.

        "Liah", rief Sophie, die sich ebenfalls einen Anzug angezogen hatte und winkte mir zu. Am Steg standen bereits einige Leute, darunter auch Jason und Pierre, ein großer französischer Tauchlehrer, der mich in die Tiefen des Meeres einführen sollte. Ich wollte umdrehen, doch mit jedem Schritt, die mich meine Beine in die Nähe des Wassers trugen, kam ein Stück meines Mutes zurück. Ich hatte es Prudence versprochen, mit Delfinen zu schwimmen.

        "Wie fühlt es sich an?", lachte Sophie und stellte sich neben mich. Die warmen Sandkörner bohrten sich angenehm in meine Fußsohle. Ich hatte seit dem letzten Spanienurlaub mit Prudence kein Sandkörnchen mehr an meinen Körper heran gelassen. Ich hatte Angst vor dem Genuss mit bloßen Füßen über den Sand zu gehen und Prudence damit zu hintergehen.

        "Gut", murmelte ich leise vor mich hin und blickte auf meine Füße, die immer weiter in den Sank sanken.

        "Gut?", wiederholte sie mit einer etwas zu hoch gezogenen Stimme. "Ich dachte jetzt kommt etwas, wie wunderbar?", meinte sie, jedoch lachte Sophie laut los. Ihr Lachen brachte mich dazu ebenfalls meine Lippen ein Stück anzuheben und leicht zu schmunzeln.

        "Es ist ein neues Gefühl...", ich ließ meine Hände an den Seiten meines Bauches bis hin zu meinen Oberschenkeln gleiten und nahm immer wieder ein Stück des Neoprenanzuges zwischen meine Fingerspitzen, "...ich hatte noch nie zu vor einen solchen Anzug an."

        "Du warst also noch nie tauchen?", fragte mich Sophie und presste ihre Lippen auf eine schmale Linie. Ich wusste von Jason, das Sophie nahe des Strandes aufgewachsen war und schneller schwimmen, als laufen konnte. Sie liebte das Meer, genauso wie es Prudence immer geliebt hatte.

        "Nein", sagte ich und sah sie mit einem leicht verzweifelten Blick an. Auf eine gewisse Art und Weise zog sich mein Magen zusammen und ich wurde das ungute Gefühl, das ich immer bekam, wenn ich den Meeresgrund nicht sehen konnte, nicht los. Für mich gab es neben Spinnen nichts Schlimmeres auf dieser Welt, als den Grund eines Gewässers nicht zu sehen und somit nicht zu wissen, was sie unter einem befand.

        "Es ist das schönste Gefühl", schwärmte Sophie, "wenn du einmal mit einer Schildkröte geschwommen bist oder einen Delfin angefasst hast, möchtest du nie wieder etwas anderes machen." Sophie packte mein Handgelenk und zog mich hinter sich her.

        "Du wirst es nicht bereuen", sagte sie immer wieder mit einem Lächeln auf ihren Lippen,"ich verspreche es dir, es wird das beste Erlebnis deines bisherigen Lebens werden und wenn nicht...", Sophie blieb plötzlich ruckartig stehen, sodass ich leicht in ihren Körper hineinstolperte, "...dann...", sie überlegte kurz, begann jedoch schnurstracks zu lachen, "...dann kannst du dich nach Herzenslust an meinem Kleiderschrank bedienen."

        "Wer kann sich an deinem Kleiderschrank bedienen?", fragte plötzlich Jason mit seiner rauen Stimme und drücke Sophie einen Kuss auf die Lippen. In diesem Moment drehte ich mich automatisch weg, ich konnte es nicht ertragen, dass andere Menschen um mich herum glücklich waren, da ich es nicht sein durfte.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt