Kapitel 4

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•vier•

Stell dir vor du könntest kostenlos die ganze Welt sehen, würdest du dann jemals zu Hause bleiben? Ich glaube ich würde meinen Rucksack packen, meinen Eltern einen Kuss geben und mich auf in das Unbekannte machen. Dich würde ich aber mitnehmen wollen.

EIN LETZTES MAL drehe ich mich in meinem Zimmer um. Alles steht fein säuberlich auf seinem Platz; mein Schreibtisch ist aufgeräumt, mein Bett ist gemacht und der Inhalt meines Kleiderschrankens zum Großteil im Koffer gepackt. Ich will mein Zimmer so zurücklassen, wie ich es wieder auffinden möchte, wenn ich zurück nach Hause komme. Ein unguter Beigeschmack überkommt mich, als ich daran denke, dass ich vielleicht die nächsten Jahre nicht mehr in diesem Zimmer stehen werden. Vielleicht komme ich auch nie wieder nach Hause.

Niemand weiß wie viel Sand seine Sanduhr noch besitzt...

Ich habe Angst, dass ich nie wieder zurück nachhause kehren werde; dass ich meine Eltern und Finn nie wiedersehen werde.

Prudence musste sich doch auch vor dieser Vorstellung fürchten, doch sich tat es nicht - meine beste Freundin hatte keine Angst davor, ihre Familie und Freunde nie wieder zu sehen.

Wieso fürchte ich mich so sehr davor?

Gewissermaßen habe ich mich bereits mit dem Gedanken abgefunden ins Unbekannte zu reisen und alles auf mich zukommen zu lassen. Niemand kann in die Zukunft sehen und niemand weiß, was in der nächsten Sekunde passieren wird. Manchmal ist es besser, dass man nicht weiß, was passiert, doch manchmal wiederum habe ich mir gewünscht einen kleinen Einblick in meine Zukunft zu bekommen.

'Wenn jetzt eine Fee auf deiner Nasenspitze landet, was würdest du dir wünschen?', hatte mich Prudence gefragt und den Strahl der Taschenlampe auf mein Gesicht gehalten. Ich wusste nicht genau was ich mir wünschen würde. Ich denke ein zehnjähriges Mädchen wünscht sich ein Pferd, Puppen oder etwas Pinkes. 'Meinst du wenn Tinkerbell vorbeikommen würde?', lachte ich und hielt meine Handfläche vor mein Gesicht.

Ich hätte damals Prudence auch einfach bitten können, den Strahl von mir abzuwenden. 'Tinkerbell, Silberhauch, Klara oder Periwinkle, das ist doch egal', hatte Prudence gelacht. Sie hatte jede einzelne Fee geliebt, doch am liebsten hatte sie Tinkerbell. Jedes Jahr zu Fasching wollte ich, dass wir das gleiche Kostüm für den Maskenball kauften, doch Prudence hatte sich jedes Jahr für eine der Feen entschieden. 'Also, was würdest du dir wünschen?', sagte sie in einer roboterähnlichen Stimme und wackelte mit der Lampe vor meinem Gesicht hin und her.

Damals habe ich ihr geantwortet, dass ich keine Ahnung hätte. Ich hatte doch alles: Meine Eltern, meine Freunde, dieses Puppenhaus, das alle haben wollten, mein eigenes Zimmer und Prudence, meine beste Freundin.

Im Hier und Jetzt würde ich mir wünschen, dass ich aus diesem Albtraum endlich erwachen kann...

Meine beiden Koffer stehen bereits im Flur und warten darauf in das Auto von Dad gepackt zu werden. Mum diskutierte stundenlang mit Dad darüber, dass er mich zum Flughafen bringen sollte, da sie, nicht in der Lage wäre, einen Abschied am Flughafen durchzustehen. Meine Mama hasst Abschiede genauso sehr wie ich.

Ich hoffe, dass es kein Abschied für immer sein wird.

Dad sah es natürlich anderes und meinte, dass beide Elternteile dafür zuständig wären, doch Mum schüttelte nur ihren Kopf und verschwand in ihrem Arbeitszimmer. Ich müsste wütend und traurig sein, doch seit hundertzwei Tagen kann ich nichts mehr fühlen.

'Liah, Liah', schrie Prudence und rannte durch unsere Haustüre direkt in unser Wohnzimmer. Ich hatte gerade damit begonnen für meine Abschlussprüfungen zu lernen. 'Ja?', fragte ich und sah von meinen Büchern auf, direkt in ihr aufgeregtes Gesicht. 'Weißt du was...? ' fing sie an und nahm einen kräftigen Schluck aus meinem Wasserglas, ehe sie sich auf das Sofa setzte.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt