Kapitel 31

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•einunddreißig•

"Ich vergleiche das Leben gewissermaßen mit einer ganz langen Reise. Du wirst viele Zwischenstopps einlegen müssen, einige werden länger dauern als andere. Manche Stopps werden zu kurz sein, andere viel zu lang. Du wirst jedoch irgendwann unbewusst genau da ankommen, an diesem einen bestimmten Ort oder bei dieser Person. Dein Weg wird das Ziel sein."

ES WAREN SCHON immer diese ganzen, für mich verwirrenden, Metaphern gewesen, über welche Prudence stundenlang hätte philosophieren können. Und trotzdem mochte ich nichts lieber, als meiner besten Freundin dabei zuzuhören, wie sie sich lautstark darüber aufregte, dass sich in den ganzen Büchern Metaphern nur so mit Metaphern überschlugen. Jedes literarische Werk war in ihren Augen ein Buch mit unzähligen halb ausformulierten Metaphern und trotzdem war es Prudence gewesen, die nur zu gerne mit bildlichen Definitionen um sich warf.

Es waren diese wunderschönen Erinnerungen an eine Zeit, die viel zu schnell zur Vergangenheit wurde.

Prudence verfügte über diese besondere Art, die mir Widersprüche immer verwehrte. Es war nicht so, dass Prudence keine andere als ihre eigene Meinung akzeptierte. Vielmehr war es die Tatsache, dass sie diese eine Fähigkeit besaß, Menschen mit ihren Geschichten in einen Bann zu ziehen. Sie konnte ihr Umfeld sehr leicht mit einigen wenigen Worten zum Nachdenken anregen und gewissermaßen alle um sich herum umstimmen.

Erfundene Geschichten waren für Prudence nicht nur fiktive Werke, die man zum Zeitvertreib liest. Vielmehr waren es für sie die unterschiedlichsten Spiegelbilder eines Autors. Auch Prudence verfügte über dieses Abbild, nicht wenn sie vor einem Spiegel stand, sondern, wenn sie vor ihrem Block hockte und auf ihrem Bleistift herumkaute. Jede Geschichte, die Prudence zu Papier brachte, war ein verschlüsseltes Spiegelbild ihrer Seele.

Seit ihrem zwölften Lebensjahr war Prudence von der Idee besessen einmal in ihrem Leben eine besondere Geschichte aufzuschreiben und diese mit den Menschen zu teilen. Andere Mädchen in ihrem Alter wollten reiten oder die schönsten Kleider haben. Prudence wollte ihr eigenes Buch schreiben und dabei spielte es keine Rolle, was sie aufschrieb, am Ende war es immer ein Kunstwerk.

So auch jede einzelne Nachricht, die sie mir jedes Jahr zu meinem Geburtstag im Briefkasten hinterließ. Prudence hatte nie diese gewöhnlichen Worte dazu verwendet, mir gratulieren zu können, es waren ihre Gedanken und Träume, die sie mir in verschnörkelter Schrift hinterließ. Diese acht Karten, welche ich im Laufe der Jahre bekommen habe, sind kleine Puzzelteile, die mich in eine ganz andere Welt bringen.

In eine Welt, die Prudence in ihren achtzehn Jahren mit so viel Mühe aufgebaut hatte.

Und dann kam dieser eine trübe Regentag, welcher alles veränderte: Nicht, dass Regenwetter und starke Windböen eigenartig für eine Kleinstadt am südlichsten Ende des Vereinigten Königreiches sind- vielmehr war es der dichte Nebel außerhalb des Royal Alexandra Childrens Hospital, der sich mit dieser einen bedrückenden Nachricht vermischte: Meine beste Freundin wäre krank.

Prudence würde sterben.

Und nun - über zweihundertfünfundfünfzig Tage später - ist es kein Schock mehr und es ist auch nicht diese grausame Realität, welche mich Tag für Tag mit einer so enormen Wucht trifft, vielmehr ist es dieser wahnsinnige Albtraum, welcher nicht jede Nacht zurückkehrt, sondern bei Tageslicht ein ständiger Begleiter ist.

Es ist die Gewissheit darüber, dass mein Herz seit den letzten Wochen viel zu schnell schlägt und ihres nie wieder schlagen wird; weder langsam, noch so unkontrollierbar schnell.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt