Kapitel 28

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•achtundzwanzig•

Du meinst, dass es in der Wirklichkeit genauso einfach ist, wie in einem Buch? Dass sich ein zahmes Lämmchen in einen gefürchteten Wolf verlieben kann? Vielleicht kann sich aber auch der gefürchtete Wolf in ein zahmes Lämmchen verlieben, Liah. 

ES WAREN NICHT nur die schönen und langen Haare, die ich an Rapunzel immer so bewundert habe oder die schönen Kleider von Aschenputtel oder die reine Haut von Schneewittchen, sondern die Tatsache, dass sie alle am Ende der sechs Seiten in meinem Märchenbuch, ihren Traumprinzen finden. Jede dieser Märchenbuch - Prinzessin hatte immer ihr ganz persönliches Ende. Als kleines Mädchen war ich begeistert von diesen Geschichten und konnte jede bis auf das kleinste Detail nach erzählen.

Doch mit den Jahren stellte sich mir immer wieder die Frage, ob diese ganzen Märchen tatsächlich so wunderschön sind. Sie haben ein fröhliches Ende, doch wie geht es nach diesem Ende, das gewissermaßen ein Anfang von etwas Schönem sein sollte, weiter?

Viele Menschen -auch Prudence- mögen solche Enden, da sie danach ihre eigene Fantasie spielen lassen können, doch ich hasse es. Ich hasse es so sehr, wenn etwas endet, das doch gerade erst begonnen hat.

'Es ist schon irgendwie beängstigend, wenn ich daran denke, dass ich jemals einer Person so sehr verfallen könnte, wie diese eine Figur in dem Buch.' Prudence tippte, mit ihren weiß lackierten Fingernägeln, auf ihren neuesten Lieblingsroman mit dem schwarz-grünen Cover und lächelte. 'Wenn ich dieser einen Person meine gesamte Aufmerksamkeit geben würde, weil sie genau weiß, wie ich die ganzen schlechten Erlebnisse in meinem Leben vergessen würde. Geht es dir nicht auch manchmal so?' Prudence war wieder ganz in ihrer Traumwelt gefangen und lächelte ununterbrochen, dieses wunderschöne Lächeln, das nur ihre Bücher hervorbringen konnten.

'Ich denke, dass ich froh sein würde, wenn ich einmal so eine Person finde', nickte ich und drehte das Buch auf seinen Rücken, um die Beschreibung genauer unter die Lupe zu nehmen. Prudence zählte nicht zu dieser Gruppe von Menschen, die einfach irgendein Buch wahllos zu Hand nahmen und einfach lesen, damit die Zeit vorbeistreicht. Sie hatte sich immer auf solche Bücher spezialisiert, die einen Hintergrund haben, auch wenn ich diesen oft nicht wirklich verstand.

Prudence beachtete jeden einzelnen Schritt meiner Handlung und lächelte durchgehend. Sie mochte es so sehr, wenn sich jemand für ihre Bücher interessierte und ich machte es nicht, weil ich mich als ihre beste Freundin dazu verpflichtet fühlte, sondern, weil ich mich tatsächlich für diese Liebesgeschichte auf den dreihundert Seiten interessierte.

'Meinst du wirklich man kann eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen auf einer Anzahl von dreihundert Seiten beschreiben?', fragte ich interessiert an meine beste Freundin gewandt.

Prudence nickte, jedoch verschwand in diesem Augenblick ihr Lächeln. 'Wenn der Autor seine ganzen Gefühle in eine Geschichte verpackt, reichen schon wenige Seiten vollkommen aus. Es muss doch nur eine einzige Nachricht überbracht werden und da ist es egal, wie viele Seiten diese Geschichte hat.' Prudence lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück.

'Welche Nachricht muss überbracht werden?', fragte ich und legte das Buch endgültig auf dem Holztisch meiner Eltern ab.

'Na, dass diese eine Person, die Erste ist mit der du am Morgen sprechen willst und die Letzte am Abend, bevor du dich deinen Träumen hingeben kannst. Es ist doch schön den Tag mit einem Lächeln zu beginnen und mit einem Lächeln einzuschlafen, oder etwa nicht?'

Gewissermaßen hatte ich damals das Gefühl, dass Prudence wieder in ihrer eigenen, kleinen Traumwelt schwebte und genau das wiedergab, das ihr die Buch-Industrie vermittelte. Etwas, dass im wirklichen Leben so schwer zu erreichen ist. Sie hätte zu diesem Zeitpunkt nur ihre Eltern als Beispiel betrachten müssen, dann hätte sie etwas anderes auf meine Frage geantwortet.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt