Kapitel 38

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•achtunddreißig•

"Es kann nicht immer die Sonne scheinen, Liebes, aber solange es Menschen gibt, mit denen du einen Regenschirm teilen wirst, kannst du auch den schlimmsten Sturm überstehen."

ICH KANN MICH nicht mehr genau erinnern, aus welchem Grund ich vor rund vierzehn Jahren beschlossen habe, jeden Montag, Mittwoch und jeden dritten Samstag im Monat in dieses Kinder- und Jugendzentrum zu gehen und meine Zeit mit Kindern -und später heranwachsenden Jugendlichen- zu verbringen. Womöglich war es Mum gewesen, die mir indirekt zu verstehen gab, dass es nicht sinnvoll wäre, die Tage zuhause im Zimmer zu verbringen und zu malen. Lesen war für sie in Ordnung gewesen, eine Schriftstellerin sollte ich werden, genauso wie sie. Mit einem breiten Lächeln und wild gestikulierenden Händen wollte sie mir stets zu verstehen geben, wie befreiend es wäre, seine Gedanken auf ein Blatt Papier zu schreiben und an nichts Anderes denken zu müssen. Es ist ihr Traum, nicht meiner.

Und ich habe nicht einmal das Recht dazu, Mum's Traum leben zu dürfen.

"Liah, Schätzchen". Ohne aufzublicken, verrät mir das Knirschen der unzähligen Blätter, das Granma immer näherkommt, ehe sie eine Hand auf meiner Schulter platziert und einen erleichterten Schluchzer ausstößt. Ich weiß, dass sie erleichtert ist, mich in greifbarer Nähe zu wissen, doch ich kann mich nicht dazu durchringen, sie anzusehen oder mit ihr zu sprechen. In diesem Moment kann ich nicht einmal mit meiner geliebten Großmutter sprechen. Ich möchte, wie so oft in letzter Zeit schon schreien.

"Liah", sie wiederholt meinen Namen nun schon zum dritten Mal und ich beginne zu weinen, aus dem Nichts heraus und ich kann den Grund dafür nicht beschreiben. Sie verstärkt den Griff um meine Schulter, eine Geste, welche ich schon so oft von ihr erfahren durfte, doch dieses Mal beruhigt mich ihre Nähe kein wenig.

Dem einzigen Menschen, dem ich Nahe sein möchte, ist unerreichbar.

"Schätzchen", sagt sie und drückt mich nun endgültig an sich. "Ich bin hier", und diese Worte meiner Großmutter reichen aus, dass unzählige Tränen aus meinen Augen strömen. "Ihr Griff wird immer stärker. Schon lange habe ich mich nicht mehr so geborgen gefühlt, wie in ihren Armen. In diesem Moment scheint auch dieses fürchterlich zerreißende Gefühl verschwunden zu sein. Der marmorfarbende Grabstein verschwindet plötzlich wie aus dem Nichts in den Hintergrund und das erste Mal seit Monaten, dreht sich meine Welt wieder um mich.

Langsam löse ich mich von meiner Großmutter und trockne die letzten Tränen, die noch in den Winkeln meiner Augen hängen. "Ist es egoistisch, hier zu weinen?"

Ich kann nicht genau sagen, welche Antwort ich mir von meiner Großmutter wünsche, doch das rasche Schütteln ihres Kopfes, gib mir die Gewissheit, dass es nicht falsch ist, die Stille dieses Ortes mit meinen Tränen zu vermischen.

"Friedhöfe sind dazu da, um trauen zu können", Großmutter geht in die Hocke, zieht aus ihrer Jackentasche ein Feuerzeug und lässt die größte Kerze in einem hellen Licht erstrahlen. "Es ist aber auch ein Ort, der dich daran erinnern lässt, welche wunderschönen Momente du mit wundervollen Personen teilen durftest und das", sie zündet eine Kerze nach der anderen an, "sollte dich niemals in Trauer versinken lassen." Granma schenkt mir ein kurzes, zaghaftes Lächeln.

"Nach dem Tod deines Großvaters war ich am Boden zerstört, aber weißt du was mich aus diesem scheinbar so tiefen Loch wieder an die Erdoberfläche befördert hat?" Dieses Mal bin ich diejenige, die ihren Kopf schüttelt. "Ihr -meine Familie- und meine Freundinnen", sie lächelt leicht, "ich habe zu verstehen gelernt, dass es vollkommen richtig ist, zu trauern, doch dass es falsch ist, sich von der Trauer mitreißen zu lassen."

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt