Kapitel 10

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  •zehn•

Weißt du worin der Unterschied zwischen versagen und aufgeben liegt? Versagen ist menschlich, aufgeben darf jedoch niemals zur Debatte stehen. Nur schwache Menschen geben auf, ich würde nie so ein Mensch sein wollen. Ich werde diesen Kampf bestreiten und ich werde diejenige sein, die als Siegerin hervor geht. Verstehst du mich? Ich werde am Ende die Gewinnerin sein. 

        "Prudence", flüsterte ich leise und nahm den Silber-schimmernden Bilderrahmen in meine Hände. "Weißt du noch, als du mir gesagt hattest, dass Freunde zu finden noch lange kein Wunder ist, sondern einen wahren Freund zu finden, der immer für dich da ist, wenn der Rest plötzlich gegen dich ist?" Ich drückte den Bilderrahmen fest an meinen Oberkörper und schloss meine Augen. "Wieso kannst du nicht hier sein und mit mir zusammen diese Entscheidung treffen? Warum muss ich sie nun ohne dich treffen?"

        In meiner Stimme schwankte ein Hauch von Zorn mit. "Warum musstest du gehen und hast mich alleine zurückgelassen? Prudence", seufzte ich und presste die Lider meiner Augen fester aufeinander. "Hast nicht du immer gesagt, wenn eine geht, geht die andere auch? Warum bist du dann ohne mich gegangen? Warum?" Die Tränen stiegen in meinen Augen hoch und tropften auf den Bilderrahmen. 

        Jedes Mal wenn ich eines der Bilder ansah, kamen unzählige Emotionen in mir hoch. 'Weißt du was das Schlimmste am Leben ist, Liah?' Prudence seufzte und drehte sich in meinem Bett zu mir um. Der Strahl der kleinen Nachtischlampe erhellte ihr Gesicht gerade soviel, dass ich ihre Umrisse einigermaßen erkennen konnte. 

        'Wenn ich dich jemals verlieren würde', stelle ich fest und musste daran denken, was sein würde, wenn wir plötzlich getrennt werden würden. 'Ja', sagte sie leise und starrte auf die Decke über uns. 'Wenn die Person, die dir einmal die besten Erinnerungen geschenkt hat, plötzlich eine Erinnerung werden würde', sagte sie nach einer Weile und sah mich danach wieder an. 'Das würde auch schlimm sein.'

         'Du und ich gegen der Rest der Welt, eine Freundschaft wie unsere gibt es nur einmal auf dieser Welt, nie werde ich einen Menschen, wie dich ein zweites Mal finden, Prudence. Nie würde ich eine andere beste Freundin haben wollen', sagte ich und drückte das Kissen fester an meinen Oberkörper, Prudence tat es mir mit einem ihrer riesigen Teddybären gleich. 

        Erneut blickte ich auf das Bild. Das Foto wurde kurz nach meinem achtzehnten Geburtstag aufgenommen. Wir beide strahlten glücklich in die Kamera meines Vaters. Generell hatten wir immer Spaß Fotos von uns zu machen oder machen zu lassen. Ich hatte immer kurze Videos mit unseren Fotos geschnitten und sie in die sozialen Netzwerke hoch geladen. 

        'Ich frage mich jedes Mal wie du aus einzelnen Fotos so ein wunderbares Video zaubern kannst', sagte Prudence erstaunt und klickte erneut auf den Abspielknopf meines Laptops. 'Das ist alles reine Übungssache, das könntest du auch, wenn du wolltest', meinte ich und widmete mich meinem Fruchtjoghurt. 'Ich denke eher nicht', lachte Prudence, 'ich hätte die Geduld dafür nicht.' 

        'Sagst nicht du immer, dass man alles in seinem Leben versuchen muss und man nicht von vornherein gleich aufgeben darf?' Ich stellte die Schale zur Seite und durchbohrte ihre Augen. Prudence lachte darauf laut auf, sodass mein Zimmer wieder mit ihren Lauten ausgehüllt wurde. 'Manchmal muss ich mir eben selber widersprechen, Liah'. 

"Kannst du dich noch daran erinnern, als ich das Video zu deinem Geburtstag geschnitten habe?" Ich blickte auf das Bild, es gab mir als Gegenstand das Gefühl, nicht mit der Luft sprechen zu müssen, es war wie der kleine Engel, der auf ihrem Grab stand. Ich brauchte immer einen Gegenstand, über den ich mit Prudence kommunizieren konnte. Es gab mir einfach das Gefühl, das sie noch bei mir war, auch wenn sie es schon seit mehr als zehn Wochen nicht war.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt