Kapitel 3

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•drei•

Erwachsene sind nicht erwachsen, sie sind nur ausgewachsene Kinder. Wir werden auch noch Kinder sein, wenn wir selber einmal Kinder haben.

DIE LETZTEN WOCHEN spielen sich in meinen Gedanken wie ein endloser Filmstreifen ab. Jeden Tag wiederhole ich dieselbe morgendliche Routine, setzte mich in den Hörsaal meiner Universität, lasse die Professoren freudig den Lehrstoff vortragen, gehe nachhause, koche für Finn und lerne - und jeden verdammten Tag komme ich zum selben Entschluss: Prudence wurde zu früh aus ihrem jungen Leben gerissen. Sie hatte so viele Träume, sie wollte jeden einzelnen abhacken und am Ende als alte Frau, auf ihr glückliches Leben zurückblicken können.

Ich hatte mir nie wirklich großartig darüber meine Gedanken gemacht, welche Träume ich hatte. Ich wollte lediglich einen guten Schulabschluss, eine gute Arbeitsstelle und vielleicht irgendwann in der Zukunft eine Familie gründen, gesund sein und glücklich bleiben - das sind doch diese Standardträume, die alle haben, oder?

Aber was ist mit den unausgesprochenen Träumen? Mit diesen Träumen, die nicht jeder hat?

Für mich ist es nicht wichtig die Welt zu sehen -ich mag Brighton und sein Regenwetter-, und ich hätte für keine Sekunde gezögert, dies jedem mitzuteilen: Ich war in Brighton geboren und vermutlich würde ich in Brighton irgendwann einmal sterben. Ich würde meine Kinder in Brighton großziehen, ich würde in Brighton heiraten und ich würde nach jedem Urlaub nach Brighton zurückkehren - in das kleine triste und regnerische Städtchen am südlichen Ende von England.

Ehrlich gesagt bin ich ein Mensch, der nichts von Veränderungen hält. Vielleicht ist mein Leben gewissermaßen langweilig und öde, aber ich mag es; ich mag es so zu leben, wie ich lebe.

'Ich habe das beste Leben, das man haben kann, werde ich dann sagen, Liah.' Prudence ließ diesen Satz mindestens einmal am Tag über ihre Lippen kommen. Für sie war das verrückte Leben, das perfekte Leben; das genaue Gegenteil von dem Leben, das ich mir für mich vorstelle und auch das war gut so, denn es war das Leben von Prudence, meiner besten Freundin.

'Glaubst du, wenn wir alt sind, werden wir noch immer beste Freundinnen sein?', fragte sie und nahm einen Schluck von ihrem Cocktail. 'Ich denke uns wird niemals etwas trennen', lachte ich, 'uns würde niemand anderes wollen'.

Man kann sagen, dass unsere Freundschaft etwas Besonderes war, das man nicht so oft fand. Zwischen uns gab es eine Spannung, die sich nicht biegen ließ, sondern sie war immer konstant gespannt.

Freunde gab es wie Sand am Meer, aber beste Freunde konnte man nicht suchen, sie wurden einem geschenkt. Und da war es wieder das Schicksal, das es damals gut mit uns gemeint hatte.

Ich glaubte nie wirklich an Schicksal oder ähnlichen Quatsch, doch wenn es um Prudence und mich ging, so war es Schicksal, das wir uns beide in diesem Kinderzentrum damals zum ersten Mal getroffen hatten. Oder vielleicht, dass ihre Mum sie dazu gezwungen hatte, Kontakt mit anderen Kindern aufzunehmen.

Ich hätte mir niemals eine andere beste Freundin vorstellen können, natürlich hatte sowohl Prudence, als auch ich andere Freundinnen, doch uns beide verband mehr als eine gewöhnliche Freundschaft. Prudence war für mich wie eine jüngere Schwester und ich war für sie die große Schwester, die man sich wünschte. Wir erlebten jeden einzelnen Abschnitt in unserem Leben gemeinsam, es gab so gut wie fast keinen Tag, an dem wir uns nicht sahen oder etwas mit einander zu tun hatten.

An jedem Tag, an dem Prudence von mir entfernt war, fehlte ein Teil von mir. Ich fühlte mich einfach nicht komplett in ihrer Abwesenheit. Es war so als würde ich ein Puzzle sein, diesem jedoch ein einziges Stück fehlte und dieses Stück war Prudence. Ohne sie ergab das Puzzle kein Bild, es war so gewöhnlich, wie es Puzzles normal waren. Erst mit ihrem Teil war es etwas Besonderes.

PrudenceWo Geschichten leben. Entdecke jetzt