Kapitel 5 - Aufgeben

22.9K 1.2K 22
                                    

Leise Schritte ertönen, werden lauter und stoppen schließlich direkt vor meiner Zimmertür. Für einen kurzen Moment ist es still, dann ertönt eine zaghafte Stimme: „Jack? Kann ich reinkommen?"

„Nein", brumme ich leise, aber noch gut für ihn hörbar, zurück. Im nächsten Moment öffnet sich die Tür und Mike betritt den Raum. „Welchen Teil von nein hast du nicht verstanden, Mike?" Ich stöhne genervt auf, obwohl es eigentlich relativ klar war, dass Mike nicht auf mich hören würde. Dieser ignoriert meine Aussage auch geflissentlich und redet sogleich auf mich ein: „Jack, wir sind beste Kumpels, du kannst mir vertrauen, wenn du nicht willst, dass ich etwas weitererzähle, tue ich es auch nicht."

„So wie du vorhin auf mich gehört hast und nicht in mein Zimmer gekommen bist, so meinst du?"

„Junge, du weißt, wie ich es meinte." Mike versucht nicht einmal sich zu verteidigen, da ihm klar ist, dass dies ein Sieg für mich ist. Gleichzeitig ist mir aber auch klar, dass seine vorherige Aussage der Wahrheit entspricht. „Ich will dir doch nur helfen, so wie man das tut als beste Freunde." Die Tonlage seiner Stimme hat sich stark verändert, wo sich vorhin noch eine Spur von Humor befunden hat, ist nun Besorgnis und leichte Angst. Er klingt ungewohnt ernst und diesen Tonfall kenne ich nicht von ihm. Erstmals hebe ich meinen Kopf, den ich bis dahin noch im Kissen vergraben habe, und blicke Mike an.

Wie immer liegt ein leichtes Grinsen auf seinen Lippen, doch anders als sonst ist es jetzt nicht fröhlich und voller Schalk. Es ist zurückhaltend, ängstlich und zaghaft. Der Junge vor mir kommt mir gerade unbekannter vor als je zuvor. Alles an ihm ist mir vertraut, die braunen Haare, die wie immer nach oben gerichtet sind, an den Seiten abrasiert und die dunklen braunen Augen. Obwohl ich Mike besser kenne als jede andere Person, habe ich in diesem Moment das Gefühl, einem Fremden gegenüber zu stehen.

Doch das Fremdsein kommt nicht davon, dass Mike sich merkwürdig benimmt, es stammt vielmehr von mir. Ich verliere mich gerade selbst ein wenig und auch mein Weltbild wird nie mehr das Gleiche sein nach den Erlebnissen von heute.

„Du brauchst mir nicht zu helfen. Ich brauche keine Hilfe, sie braucht sie.", antworte ich leise, vollkommen verwirrt von meinen eigenen Gedanken. „Wie heißt sie?", nutzt Mike meine Verwirrung sogleich aus. „Jamie. Sie heißt Jamie."

„Hübscher Name." Mein Blick geht sofort warnend in seine Richtung und ich mustere ihn leicht. Mike schenkt mir nur einen augenrollenden Blick und grinst mich an, doch es ist ein aufmunterndes Lächeln. Eine Weile bleiben wir still und gehen unseren Gedanken nach, bis ich schließlich die Stille breche. „Wieso sie?" Die Frage ist nicht speziell an Mike gerichtet, vielmehr frage ich die Welt über diese Ungerechtigkeit aus.

Mike blickt mich nur wissend an, er scheint zu verstehen, was ich meine. „Ich denke, es hat einen Grund, warum sie es ist. Sie wäre nicht deine Mate, unsere Luna, wenn sie nicht geeignet wäre." Mike klingt zuversichtlich und optimistisch wie eh und je. Ich seufze nur auf über seine Naivität. So aufmunternd sie manchmal auch sein kann, oftmals verzerrt sie nur die Realität. „Mike, du verstehst nicht... Du hast sie nicht gesehen, du hast nicht erlebt, was ich heute erlebt habe."

„Dann erklär es mir, erzähl mir, was passiert ist und lass mich verstehen." Er klingt eindringlich und offen, hilfsbereit wie immer. Ich hole tief Luft und erzähle ihm dann, was mein Leben heute durcheinandergebracht hat und mich aus den Bahnen geworfen hat.
Nur einmal unterbricht er mich, als ich erkläre, wie mein Wolf die Kontrolle über meinen Körper übernommen hat. „Das war bei mir genauso als ich Melanie getroffen habe. Ein natürlicher Instinkt deines Wolfes. Du hättest nichts dagegen tun können", behauptet er.

Am Schluss der Geschichte fühle ich mich schlechter als zuvor. Erneut wird mir vor Augen geführt, dass ich sie in Gefahr gebracht habe und nichts dagegen tun konnte. „Du hast keine Schuld an dem, was passiert ist. Dein Wolf hat dir nie die Wahl gelassen, was du tun wirst, also gib dir nicht die Schuld, okay? Es waren deine Instinkte, die dich zu dieser Aktion verleitet haben und nicht du." Noch nie hat Mike so eindringlich mit mir gesprochen.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt