Kapitel 30 - Fort

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Ich bleibe wie erstarrt im Türrahmen stehen und bin nicht im Stande, auch nur einen einzelnen Muskel zu rühren. Das Zimmer ist leer. Obwohl das Licht ausgeschaltet ist, weiß ich, dass Jamie sich nicht darin befindet. Ich kann sie nicht hören und wenn ich mich vorhin schon auf meine Sinne verlassen hätte, statt sie in meiner Nervosität auszublenden, hätte ich schon vorher bemerkt, dass sich kein Herzschlag im Zimmer befindet. Doch ich hatte zu viel Angst davor, wie Jamie reagieren könnte, als dass ich die Möglichkeit überhaupt in Betracht gezogen hätte, dass sie sich gar nicht im Zimmer befinden könnte.

Meine Hand krallt sich am Türrahmen fest und ich ziehe scharf Luft ein. Ich spüre, dass sie weg ist, ich kann ihre Abwesenheit wahrnehmen, auch wenn ich es nicht akzeptieren will. Alles spricht dafür, dass sie sich nicht im Zimmer befindet. Trotzdem gehe ich mit schweren Schritten ins Zimmer hinein und suche sie. Ich blicke um mich und suche ihre Spuren und erwarte jeden Moment, dass sie hinter mir steht und ich sie sehen kann, wenn ich mich nur umdrehe.

Das Bett ist frisch gemacht, das Namenschild und das Klemmbrett sind entfernt und die Blumen sind vom Tisch verschwunden. Mein Blick fällt auf die Tür, welche zum verbundenen Badezimmer führt. In meinen Gedanken bete ich zu einem Gott, an den ich nicht glaube, und hoffe, dass sie sich dort drin befindet. Meine Sinne schreien ich zwar an, dass sich auch dort kein Herzschlag drin befindet und der Geruch von Jamie ist im ganzen Zimmer schwach, als wäre sie schon eine ganze Weile fort, doch ich kann es nicht akzeptieren.
Vorsichtig klopfe ich an die Tür. „Jamie, bist du da drin?", frage ich leise. Ich kann kein fließendes Wasser hören, vermutlich trocknet sie sich gerade ab oder kämmt sich die Haare.

Das Offensichtliche erscheint mir unmöglich. Zehn Sekunden warten. Eintreten. Leer. Trocken. Dunkel. Kein Geräusch ertönt in dem Raum. Niemand duscht. Niemand kämmt sich die Haare. Niemand ist hier. Sie ist weg. Stumm sinke ich auf die Knie und starre ins leere Badezimmer. Ich kann nicht denken. Das scheinbar Unmögliche ist wahr geworden.

Mein Gehirn beginnt erst nach einer Weile wieder damit normal zu funktionieren und ich erwache aus meiner kurzzeitigen Starre. Überwältigt von meinen Gefühlen war ich nicht in der Lage die ganze Situation rational zu betrachten und nun erst merke ich, wie dämlich ich mich doch benehme, denn meine offensichtliche Lösung war nicht die wirklich offensichtliche oder die naheliegende Antwort.

Jamie war schon viel zu lange im Krankenhaus, obwohl sie sich doch schon lange von dem Anfall erholt hatte. Monika hat mir sogar noch vor einigen Tagen erzählt, dass sie sich körperlich davon erholt hat und soweit genesen ist. Sie wurde einfach zurück in die Psychiatrie verlegt, weil es keinen Grund mehr gab, sie länger hier zu behalten. Erleichtert atme ich auf und könnte mich für meine übertrieben Hysterie selbst schlagen. Die Antwort lag klar auf der Hand, doch durch meine Panik nahm ich sogleich das Schlimmste an.

Mit einem leichteren Herzen schüttle ich die Schwere und den Nebel, der sich über meine Gedanken gelegt hat, ab. Doch ich muss noch immer zu ihr, egal wo sie ist. Ich springe auf meine Füße und renne aus dem Zimmer. Vor dem Zimmer knalle ich beinahe in eine Frau hinein, welche das Zimmer gerade betreten will und ungeschickt weiche ich ihr aus. Sie blickt mich erschrocken an und öffnet gerade den Mund, um etwas zu sagen, doch ich renne bereits weiter, das Ziel klar vor meinen Augen. Nur schwach hallen mir ihre Worte noch nach und ich habe das Gefühl sowohl meinen Namen, als auch den von Monika zu hören, doch ich schüttle die Rufe ab und renne weiter.

Mein Kopf ist ausgefüllt von den Gedanken an Jamie und dem Wissen, dass ich sie bald wiedersehen werde. Keine zehn Minuten später stehe ich bereits vor dem düsteren Gebäude der Psychiatrie. Dieses Mal habe ich mir nicht die Mühe gemacht, um mich in einen Wolf zu verwandeln, da ich keine Kleider zur Stelle habe und das Umziehen nur eine Verschwendung der Zeit wäre. Deshalb habe ich meinen menschlichen Körper zur Höchstleistung angespornt während ich über die Straßen gerannt bin.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt