Kapitel 32 - Heimat

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Jack

Ich kann es kaum glauben. Sie läuft neben mir her. Stillschweigend wie immer, doch lebendiger als je zuvor. Zwar beunruhigt mich ihr Zittern immer noch und ich kann die Müdigkeit und die Erschöpfung in ihren Augen sehen, doch ich kann nicht wirklich etwas dagegen tun, denn ich trage nicht viel mehr als sie. Nicht einmal eine Jacke kann ich ihr anbieten und mein T-Shirt würde ihr kaum etwas bringen, um ihre Arme zu wärmen und ich vermute, dass sie es auch nicht wirklich schätzen würde, wenn ich spärlich bekleidet neben ihr hergehen würde. Zusätzlich wäre es auch merkwürdig, wenn ich trotz der spürbaren Kälte dieser Frühlingsnacht nicht frieren würde.

Deshalb blicke ich sie einfach weiter mit einem leicht besorgten Blick an und hoffe, dass sie nicht allzu kalt hat und das Zittern mehr durch die Erschöpfung zustande kommt als durch die Kälte. Doch meine Besorgnis kann die Freude in mir nicht überdecken und ich muss mich zurückhalten, um nicht neben ihr auf und ab zu springen.

Ein Lächeln ziert ihr Gesicht, was mich mit durchdringender Freude erfüllt. Es ist nicht eine oberflächliche Freude, wie ich sie bei einer guten Note in der Schule oder einem schönen Tag erfahre, sondern etwas Tieferes. Es durchströmt mich und ich fühle mich vollkommen zufrieden und richtig. Noch nie zuvor habe ich sie so glücklich lachen sehen. Noch nie zuvor habe ich sie überhaupt wirklich glücklich gesehen und es ist ein wunderschöner Anblick.

Ein Stich durchfährt mich, als ich daran denke, wie ich vor wenigen Tagen noch daran gezweifelt habe, ob Jamie wirklich gut für mich sein kann oder ob sich das Schicksal geirrt hat. Ich fühle die Schuldgefühle in mir aufbrüllen und der Schmerz, dass ich meine Mate bezweifelt hatte. Dass ich an uns gezweifelt hatte.

Sie hat das schönste Lachen, welches ich je gesehen habe. Ihre Mundwinkel gehen nach oben und ziehen den Mund mit, legen Grübchen frei, von deren Existenz vorher nicht einmal geahnt hätte und ihre Augen strahlen in der Dunkelheit. Ich sehe ihre Müdigkeit in ihren Augenringen, die Erschöpfung in ihren Augen und in ihren schleppenden Schritten und doch hat sie nie lebendiger gewirkt als in diesem Augenblick.

Sie wirkt wie ein anderer Mensch. Und dennoch ist sie noch immer die gleiche Person. Doch ihre ganze Mimik, ihre gesamte Ausstrahlung ändert sich mit einem wahren Lächeln. Es ist Magie, es ist die gute Fee, die Aschenputtel in eine wunderschöne Prinzessin verwandelt, doch mit dem Unterschied, dass Jamie keinen Schein braucht, sondern die Verwandlung echt ist.

Ich kann es kaum fassen, dass ich sie vor einigen Minuten noch in den Armen gehalten habe. Noch immer spüre ich das Nachkribbeln ihres Körpers auf meinem auf den berührten Körperstellen. Das Gefühl ihres Körpers auf meinem war unglaublich und es war erlösend, denn wir haben nicht nur gefunden, wir haben wiedergefunden und wir haben das Loch in uns wieder gefüllt. Wir haben uns geheilt. In ihren Armen fühlte ich mich beschützt, ich fühlte mich sicher und sorgenfrei, als gäbe es nichts auf der Welt, was mir etwas anhaben könnte.

Zuvor hatte ich immer das Gefühl, dass es allein meine Aufgabe sei, sie zu beschützen, doch nun begreife ich, dass dies auf Gegenseitigkeit beruht. Der Schutz fühlt sich warm an, eine Geborgenheit, die ich zuvor nur bei meiner Mutter gespürt hatte. Die Sicherheit, dass alles in Ordnung sein wird und die Gewissheit, dass die Lasten der Welt nicht auf meinen Schultern liegen.

Erstmals begreife ich, wieso ein Alpha nicht alleine ein Rudel führen kann, sondern die Luna an seiner Seite braucht. Es braucht ein Gleichgewicht und dieses Gleichgewicht kann es nur geben, wenn eine andere Person dort ist, um den Alpha auszugleichen. Ich brauche Jamie an meiner Seite, um meine Fehler und Macken auszugleichen und um das Rudel dort zu schützen, wo ich es nicht kann.

Wir kommen der Psychiatrie langsam näher und ich bin unterdessen noch froher, dass Jamie und Larissa nicht so weit gekommen sind, denn sonst müssten wir noch weiter in der Kälte marschieren und Jamie fröstelt noch immer. Entgegen meiner Erwartungen versteift sie sich in keinster Weise und bleibt ihrem schmalen Lächeln weiterhin treu. Auch, als wir uns langsam dem großen, grauen Klotz der Psychiatrie nähern. Ich sehe nur Kälte, Schmerz und Trauer in dem Gebäude und auch wenn ich Jamie dort schon so oft besuchen ging, läuft mir jedes Mal aufs Neue ein Schauer über den Rücken. Ich sehe darin nur einen schrecklichen Ort voller Zerrissenheit und Verrücktheit, in dem Menschen eingesperrt ihr Leben verbringen, weil sie es nicht anders können.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt