Kapitel 20 - Liebe

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Jack

Noch nie zuvor in meinem Leben haben mich Worte auf solch eine Art berührt. Ihre Worte verändern etwas Grundlegendes in mir und lassen mich zu einem anderen Menschen werden. Sie treiben mich dazu an, eine bessere Version von mir selber zu werden ohne mich dabei selbst verlieren zu müssen.. Noch nie in meinem Leben habe ich ich mehr Einfühlvermögen verspürt und erstmals habe ich das Gefühl, nicht nur an der Oberfläche der Dinge zu kratzen, sondern andere wirklich zu verstehen. Nie in meinem Leben fühlte ich mich verbundener mit meinem inneren Wolf und mit meinem gesamten Rudel.

Auf einmal habe ich das Gefühl sie zu verstehen, wenn sie Probleme haben und verspüre den Drang, ihnen zu helfen und ihnen die schmerzlichen Gefühle und Probleme abzunehmen. Ich fühle mich schlecht, wenn ich daran denke, wie ich sie bisher immer abgewiesen habe, wenn sie Rat suchend zu mir kamen und ich sie kalt abwies, da ich nicht verstand, was sie von mir erwarteten.

Ich blicke hinüber zum Bett, auf der meine Mate friedlich zu schlafen scheint. Wir haben uns eine lange Zeit angeschwiegen, nachdem ich sie gefragt habe, warum sie mir vertraut. Doch überraschenderweise war es keine unangenehme Stille, denn für mich fühlte es sich an, als wäre alles gesagt worden, was gesagt werden musste. Sie hat meine Frage nicht beantwortet, doch irgendetwas in ihrem Blick verriet mir, dass sie nicht gesagt werden musste. Und ich verstand.

Danach hing jeder von uns erneut den eigenen Gedanken nach. Zwischendurch wurde einmal Essen herein gebracht und meine Anwesenheit nicht stark erwähnt, obwohl mir die Krankenschwester kurz einen Blick zugeworfen hat. Wir blieben stumm. Jamie scheint irgendeinmal eingeschlafen zu sein, während sich bei mir immer noch die Räder im Kopf drehen und mir meine Gedanken keine Ruhe lassen wollten.

Sind all diese neuen Erkenntnisse und Gefühle wegen ihr? Ist das die Macht der Luna, welche sich auf mich überträgt und mich in eine neue Beziehung zu mir selbst bringt?

Ich liebe sie.

Die Realisation überkommt mich überraschend, doch sie trifft mich nicht unerwartet. Sie überkommt mich in warmen Wellen und wärmt mein Inneres auf. Ich bin mir nicht sicher, ob es das erste Mal ist, dass mir dieser Gedankengang durch den Kopf geht, doch es ist auf jeden Fall das erste Mal, dass ich die Worte bewusst in meinen Gedanken ausspreche. In diesem Moment begreife ich erst, wie absurd diese ganze Situation überhaupt ist. Ich verliebe mich in eine Person, die ich gerade einmal wenige Wochen kenne.

Ich weiß so gut wie nichts über Jamie. Wie kann es sein, dass ich mich in jemanden verliebe, den ich gar nicht kenne? Doch ich habe mich in sie verliebt und dies einzig und alleine, weil ein Teil in mir – der animalische, wölfische Teil – sie als meine Mate auserkoren hat. Sie ist eine Person aus Milliarden von Menschen und der Wolf hat sie als seine Mate anerkannt und ich habe mich in sie verliebt, bevor ich auch nur registrieren konnte, was denn überhaupt passiert – lange bevor sie auch nur ein einzelnes Wort an mich gerichtet hat oder auch nur ihren Blick auf mich gewendet hat.

Normalerweise lernt man eine Person kennen und man verliebt sich langsam in sie, weil sie außerordentlich ist und man sich in alle ihre Eigenschaften verliebt. Egal ob schlechte oder gute. Man lernt die Person kennen und dann verliebt man sich in sie. Bei mir lief es genau anders herum. Ich verliebte mich in sie und lernte sie danach erst kennen. Ich hatte nie eine andere Wahl. Und trotzdem bereue ich es keine einzige Sekunde, denn ich hatte die Chance, mich erneut in sie zu verlieben, nachdem mein Wolf ihr schon lange erlegen war.

Früher habe ich immer gedacht, dass es schrecklich sei, wenn man seine Mate trifft. Ich habe alle meine Freunde und Rudelmitglieder beobachtet, wie sie den Einen oder die Eine getroffen haben und ihm oder ihr direkt verfallen sind. Sie hatten gar nie eine andere Wahl, als diese Person zu lieben. Auf mich wirkte es wie eine gezwungene Liebe, die mir jegliche Freiheit nimmt, mich selbst frei zu entscheiden, wen ich lieben möchte und wie ich mein Leben verbringen möchte. Wie könnte ich je sicher sein, dass es wirkliche Liebe ist, wenn es genauso gut nur meine Instinkte sein könnten, die mich dazu drängen?

Doch während ich Jamie friedlich vor mir schlafen sehe, wird mir klar, dass es keine gezwungene Liebe ist. Es ist keine Strafe, die mir auferlegt wird und mir meine Freiheit nimmt. Es ist vielmehr ein Geschenk, welches mir gegeben wurde und dass ich schätzen sollte. Es ist kein Zufall, dass Jamie meine Mate ist. Sie ist meine Mate, weil wir Seelenverwandte sind. Sie ist meine Mate, weil wir zueinander passen, mehr noch, wir ergänzen uns und gleichen uns aus. Wir sind das, was der jeweils andere von uns braucht. Wir wurden füreinander geschaffen.

Vielleicht bin ich voreingenommen, sehe nicht mehr klar, weil ich geblendet bin von einer falschen Liebe, doch kann etwas so Reines und Vollkommenes wirklich falsch sein? Kann etwas, was mich glücklicher, ausgeglichener und besser macht als je zuvor, falsch sein?
Ich kannte Jamie nicht, als ich mich zum ersten Mal in sie verliebte, doch mit jedem weiteren Tag, den ich mit ihr verbringe, verliebe ich mich erneut in sie und merke, dass es richtig ist.

Ein Schrei lässt mich aus meinen Gedanken aufschrecken und sofort springe ich auf und blicke wild um mich, um den Ursprung zu finden. Es ist ein Schrei, der mich bis ins Mark erschüttert hat. Leicht heiser, aber trotzdem laut und voller Schmerz. Das Zimmer ist leer und schnell wende ich meinen Blick auf das Bett vor mir. Jamie bewegt sich unruhig hin und her, ihre Augen sind noch immer geschlossen und ihr läuft Schweiß über die Stirn. Ihre dünne Bettdecke ist ihr vom Körper gerutscht und liegt nun auf ihren Beinen, vermutlich hat sie sie im Schlaf weggetrampelt.

Erneut schreit sie auf, dieses Mal leiser, doch nicht weniger schmerzerfüllt. Schnell gehe ich den Schritt zum Bett hin und stehe hilflos daneben. Aus der Nähe sehe ich besser, wie ihr Körper bebt und zittert und ihre Haut von Schweiß überströmt ist. Es laufen Tränen über ihr Gesicht und in ihrer Mimik zeigt sich eine starke Mischung aus Panik und Angst ab. Noch immer windet und dreht sie sich hin und her.

Hilflosigkeit durchströmt mich und in meinem Kopf dreht sich alles, da auch ich beginne, Panik zu verspüren. Meine Atmung und mein Puls werden schneller und ich muss mich konzentrieren, um langsame, tiefe Atemzüge zu nehmen, damit ich nicht hyperventiliere. Langsam und vorsichtig setze ich mich auf den Bettrand von Jamies Bett, in Reichweite, um sie zu berühren, aber gerade weit genug entfernt, um sie nicht aus Versehen zu berühren, während sie sich unruhig bewegt und immer wieder leise Schreie ausstösst. Es tut weh, das mitanzusehen.

Mit zitternden Händen und schnell klopfenden Herzen streiche ich ihr vorsichtig über die Haare und die Arme, in einem verzweifelten Versuch sie zu beruhigen. Dabei versuche ich sie mit flüsternden, sanften Worten zu besänftigen. Ihre ruckartigen und unruhige Bewegungen werden langsamer und die Schreie verstummen, doch ihr laufen weiterhin Tränen über die Wangen und ich kann sie leise wimmern hören. Ich streiche ihr weiterhin übers Haar und flüstere weiterhin irgendwelche beruhigenden Worte vor mich her.

Auf einmal schreit Jamie unglaublich laut auf, lauter als zuvor und so viel schmerzerfüllter, und setzt sich ruckartig im Bett auf. Nur durch meine tierischen Reflexe bin ich schnell genug, um meine Hände von ihrem Körper zu lösen und zurückzulehnen, damit sie nicht in mich hineinstößt. Im nächsten Moment wirft sie sich mir um den Hals und drückt ihr Gesicht an meine Schulter. Ihre Arme schlingen sich um meinen Körper und ich spüre, wie mein Hemd durch ihre Tränen völlig durchnässt wird.

Jamie scheint die Situation nicht wirklich wahrgenommen haben, denn ihre Umarmung ist fest und obwohl ich es doch eigentlich besser wissen sollte, lege ich meine Arme ebenfalls um ihren kleinen, zitternden Körper. Obwohl ihr Körper an meinem sich kalt anfühlt, spüre ich, wie mein Körper warm zu kribbeln beginnt. Ich atme ihren süßen Geruch ein und trotz der schrecklichen Situation kann ich nicht anders, als die Umarmung zu genießen und unglaubliches Glück zu verspüren.
Gleichzeitig durchströmen mich allerdings Schuldgefühle, denn ich spüre, wie Jamies Körper noch immer von Schluchzern durchschüttelt wird und sie weiter weint. Vorsichtig streiche ich ihr über den Rücken. Ihr Schluchzen verstummt ohne Vorwarnung und ich stoppe sogleich ebenfalls in meinen Bewegungen. Ihr Körper wird starr, sie versteift sich und beginnt im nächsten Moment zu zittern.

Und wieder einmal erst in diesem Moment, begreife ich erst wirklich meine derzeitige Lage und mein Problem.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt