Kapitel 28 - Monat

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Jamie

Grelles Licht, das meine geschlossenen Augenlider erhellt, weckt mich. Langsam blinzelnd öffne ich meine vom Schlaf verklebten Augen und blicke an die Decke meines Krankenhauszimmers. Mein Verstand folgt nur langsam dem Beispiel meines Körpers und es fühlt sich an, als wäre mein Kopf mit Honig gefüllt, und meine Gedanken bewegen sich nur langsam und zäh vorwärts.

Verwirrt und desorientiert blicke ich mich um und versuche über meine Umstände klar zu werden. Angestrengt versuche ich mich an die Ereignisse des vergangenen Tages zu erinnern, doch es ist, als würde ein Damm alle Erinnerungen von mir abgetrennt halten und nur mit Mühe kann ich ihn brechen. Vermutlich hätte ich es besser gelassen, denn die Erinnerungen stürmen wie Wellenberge auf mich ein. Für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl davon gleichzeitig erschlagen und ertränkt zu werden und nur mit Mühe kann ich mich an die Oberfläche kämpfen, um die Erinnerungen zu sortieren und sie zu verstehen. Jack und der Kuss.

Die Erinnerungen an den gestrigen Tag fühlen sich merkwürdig an, so unwirklich und entfernt. Als wäre alles, was gestern geschehen ist, nur ein Traum gewesen. Auch die fehlenden Erinnerungen an den Rückweg und die Zeitsprünge tragen eigentlich nur zu diesem Gedanken bei und doch bin ich mir sicher, dass es kein Traum sein konnte. Auch wenn mein größtes Beweismittel nicht die Erinnerungen an den Tag sind, sondern die Erde unter meinen Fingernägeln. Und trotz des traumartigen Gefühls kann ich noch immer seine Lippen auf meinen spüren, das Wasser auf dem See glitzern sehen und den Geruch des Waldes riechen. Wäre der physische Beweis nicht, würde ich vermutlich erneut an meinem Verstand zweifeln.

„Woran denkst du?" Der unerwartete Klang einer Stimme lässt mich zusammenzucken und ruckartig aus meinen Gedanken auftauchen. Mein Kopf schnellt zum Ursprungsort des Geräusches herum und ich blicke die Person erschrocken und zugleich überrascht an. Dr. Thompsen sitzt auf Jacks Stuhl und blickt mich an. Ihr Gesicht ist starr und ich kann keinerlei Emotionen daraus lesen. Doch ihre Augen wirken müde und ihre sonst so ordentliche Frisur wirkt zerzaust, als hätte sie die gesamte Nacht hier verbracht. Vermutlich hat sie dies auch.

„Jamie, würdest du mir bitte antworten?", fordert sie mich mit einem forschenden Blick auf und ich fühle mich unwohl. Schnell wende ich meinen Blick ab und schaue stattdessen zum Fenster, wessen Vorhänge aufgezogen wurden. Vermutlich hat sie jemand geöffnet, um das Licht hineinzulassen und mich zu wecken, was schließlich auch funktioniert hat. Ich konzentriere mich auf den Fensterrahmen und fahre mit meinem Blick den Holzmaserungen nach.

Verzweifelt versuche ich mein Gehirn dazu zu zwingen, abzuschalten und alle Gedanken in meinem Kopf zu verdrängen und einfach alles um mich herum zu ignorieren. Jack, Dr. Thompsen, der Kuss, die Psychiatrie, das Krankenhaus, die Schmerzen und das Leid. Ich versuche alles aus meinem Kopf zu streichen und in mein eigenes Paradies, in meine Festung zu steigen. In das Paradies voller Schönheit, wo Stille herrscht und die Schmerzen verschwinden. In das Paradies, wo ich nicht denken muss und nicht leiden muss. In das Paradies, in dem ich lachen kann und alles in Ordnung ist. Doch dieses Paradies existiert nicht und ich kann auch nicht wieder in die Starre zurückkehren.

Ich habe sie zu Teilen aufgegeben und finde nicht mehr zu ihr zurück, die Gedanken sind zu laut und die Gefühle zu groß. Das Eis zu weit geschmolzen, die Tür lässt sich nicht mehr so gut verbarrikadieren. Ich kann nicht gehen. Aber ich will nicht bleiben.

„Ich weiß genau, dass du mich verstehst", drängt sich deshalb die Stimme klar und deutlich in mein Bewusstsein. Doch ich gebe mich nicht geschlagen und versuche weiterhin verzweifelt abzutauchen und zu verschwinden, doch weder die Stille noch die Starre kommen und ich bleibe vollkommen anwesend und werde gezwungen, zu fühlen. „Ich bin nicht dumm, Jamie und ich weiß, dass du ebenfalls klüger bist, als du zum Anschein gibst."

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt