Kapitel 27 - Zerissenheit

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Jamie

Seine weichen Lippen bewegen sich auf meinen und küssen mich. Doch ich verstehe nicht, was hier geschieht und was er tut. Mein Körper reagiert nicht mehr, meine Gedanken rasen und ich fühle mich wie gelähmt. Ich habe in Büchern gelesen, wie Küssen unzählige Emotionen auslöst, Feuerwerke erscheinen und die Welt in Flammen aufgehen lässt. Küssen soll eine der intimsten und angenehmsten Verbindungen zwischen zwei Personen sein und wundervolle Gefühle bewirken.

Doch ich fühle mich, als würde ich innerlich zerreißen. Die eine Seite will sich an die schützende Nähe und Wärme, die von Jack ausgeht, anschmiegen und in dieser Berührung Schutz finden, doch die andere, stärker kämpfende Seite, will nur weg von ihm, so schnell es geht. Meine Haut brennt von seinen Berührungen, mein Herz klopf heftig vor Panik und meine Angst wandelt sich in pure Schmerzen um. Ich will das nicht.

In mir tobt ein Krieg. Ein Krieg, den ich weder gewinnen noch verlieren kann, denn beide Seiten kämpfen für mich. Beide Seiten gehören zu mir. Egal welche Seite gewinnen wird, der Sieg wird immer der meine sein, doch genauso werde ich auch der alleinige Verlierer sein. Es ist ein hirnrissiger, brutaler Kampf, der nur in Schmerzen enden kann. Schmerzen, welche immer bei mir landen werden.

Es ist kein neuer Krieg, den mein Inneres führt. Schon unzählige Male habe ich gegen mich selber gekämpft und immer wieder habe ich gegen mich verloren. Jedes Mal habe ich nur Asche zurückgelassen. Asche, die bei jedem neuen Kampf aufgewirbelt wird und eine schmerzhafte Erinnerung bietet. Soldaten stolpern über die Überreste ihrer gefallenen Brüder und jedem dieser Krieger ist klar, dass dies ihre Zukunft sein wird, doch niemand hat die Kraft zu stoppen. Mein Kopf beherrscht mein Inneres und ich kann nichts dagegen tun. So wirbelt die Asche immer wieder auf, so heiß, als hätte sie niemals die Zeit gehabt, um abzukühlen und zur Ruhe zu kommen, schnürt mir meinen Atem ab und hinterlässt Narben auf meiner Haut. Narben, die nie verschwinden und kaum die Zeit haben zu verblassen, da sie jedes Mal aufs Neue aufgerissen werden.

In meiner Starre bemerke ich nicht, dass Jack mich schon lange losgelassen hat. Auf meiner Haut brennen die Erinnerungen seiner Berührungen weiter und graben sich in mein Fleisch hinein. Der Schmerz lässt nicht nach und der Krieg tobt weiter in mir. Schwerter werden gezogen, krachen auf Schilder und Brüder kämpfen weiter gegen Brüder. Soldaten fallen und werden von ihren Schlächtern betrauert, doch keiner stoppt den Krieg, egal wie schmerzhaft er für alle Beteiligten ist. Keiner hat die Macht dazu. Ich kann keinen klaren Gedanken fassen, alles ist zu viel.

Ich merke nur benommen und hinter einer Nebelwand, dass ich mich noch immer auf meinen Knien auf dem sandigen Boden vor dem See befinde. Meine Arme sind um mich geschlungen und ich beuge mich vorne über, um meinen Torso zu schützen. Schweißnasse Haare kleben an meiner Stirn und hängen vor meinem Gesicht. Ich versuche zu realisieren, was passiert ist, doch meine Gedanken stocken. Ein Neben durchzieht sie und jede Überlegung ist zäh wie Honig, lässt sich nur schwer fassen und aus tausenden anderen herumfliegenden Gedanken ziehen. Ich kann mich nicht daran erinnern, was passiert ist und wieso ich mich so ausgelaugt fühle. Ausgelaugt, erschöpft, leer und wund, als hätte ein Schmerz sich durch meinen ganzen Körper gezogen. Mein Körper erinnert sich an die Schmerzen, doch mein Kopf kann sie nicht wirklich zuordnen.

Ich sehe, wie Jack vor mir kniet und mit mir redet, denn sein Mund bewegt sich. Doch ich kann seine Worte nicht verstehen, höre ihn nicht und nehme nur dieses Rauschen in meinen Ohren wahr. Ich nehme Jack, seine Bewegungen und seine Anwesenheit wahr und trotzdem sehe ich ihn nicht wirklich. Meine Augen fokussieren auf einen unsichtbaren Punkt in weiter Ferne, während ich ihn mit glasigen Augen anstarre.

Die nächsten Stunden und Minuten nehme ich nur teilweise mit. Es fühlt sich an, als würde ich in einem Film sitzen. Ich sehe, was sich abspielt, höre die Geräusche und Dialoge, doch ich bin nicht anwesend. Ich bin nicht Teil des Filmes, sondern nur ein aussenstehender Zuschauer, welcher nicht in das Geschehen eingreifen kann. Nichts kommt wirklich ganz in meinem Bewusstsein an. Meine Aufmerksamkeit gilt nicht hauptsächlich dem Film, sondern vielmehr meinen Gedanken, denen ich nachhänge. Ich bekomme mit, wie sich der Film im Hintergrund abspielt, doch ich konzentriere mich nicht darauf und er wird zu einem stetigen Rauschen, welches sich ausblenden lässt.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt