Kapitel 14 - Wieder vereint

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Jack

Als ich die Augen öffne, sehe ich weiß. Nur weiß. Ist das der Himmel, von dem alle immer sprechen? Das Paradies, das nach dem Tod erscheint?, schießt es mir durch den Kopf, doch ich lasse den Gedanken schnell wieder fallen, nachdem mich stechende Kopfschmerzen überfallen. Ich verziehe das Gesicht und realisiere, dass ich mich nicht im Himmel befinden kann, doch in diesem Moment bin ich mir nicht sicher, ob es eine gute oder schlechte Nachricht ist. Die Hölle ist immer noch eine Alternative. Stöhnend drehe ich meinen Kopf ein wenig und erblicke ein komplett weißes Krankenzimmer, das keinerlei farbige Elemente aufweist und so unglaublich unfreundlich und abweisend wirkt. Ich bin also weder im Himmel noch in der Hölle, sondern noch am Leben.

Vorsichtig setze ich mich auf und teste sicherheitshalber meine Finger, die jedoch glücklicherweise noch alle einwandfrei funktionieren wie auch alle meine anderen Körperglieder. Ich sehe mich genauer im Raum um. Mein Bett steht in der Mitte, groß und platzeinnehmend. An der gegenüberliegenden Wand befindet sich ein kleiner Tisch mit einem Strauss farbigen Blumen, welche das einzige farbige Element des Raumes sind.

Die Blumen sind wunderschön. Ich zucke zusammen. Wunderschön. Jamie.

Mittlerweile bin ich mir sicher, dass ich überlebt habe. Doch ein Teil von mir kommt nicht umhin, es zu bereuen, obwohl ich das Leben liebe. Ich meine, sie ist gegangen, warum soll ich dann noch hier sein? Wie kann ich noch hier sein? Wie konnte sie einfach so gehen? Ich dachte, es gehe ihr besser. Doch sie ist trotzdem einfach gegangen. Ohne mich.

War ihr Verhalten alles nur Fassade und Lügen? Kannte ich die Person, die meine Mate war, überhaupt ein bisschen? Ich dachte, dass ich bereits jede ihrer Regungen und Gedanken von ihr erkenne, aber anscheinend wusste ich rein gar nichts über sie. Jamie Hayley. Das ist alles, was ich über sie weiß. Das ist ihr Name, wenn es überhaupt ihr richtiger Name ist. Keine ihrer Vorlieben, kein Lieblingsessen, kein Lieblingstier, keinerlei Nichtigkeiten kenne ich. Ich weiß weder, woher sie kommt, was mit ihrer Familie ist, noch, wieso sie in die Psychiatrie kam.

Doch trotzdem vertraue ich ihr. Nicht nur, weil ich durch das Schicksal an sie gebunden bin, sondern auch durch ihre Ausstrahlung. Sie strahlt eine solche Unschuld aus und wirkt gleichzeitig so vertrauenswürdig. Ich weiß, dass sie einen stillen Kampf gegen Dr. Thompsen und die Psychiatrie führt. Ihr Geist wurde gebrochen und trotzdem ist sie so unglaublich stark.
Jeder sollte sie bewundern.

Ich weiß, dass sie sich selbst aufgegeben hat, ich spüre es und sehe es in ihrem Blick. Doch trotzdem macht sie weiter und steht jeden Tag wieder auf. Ich denke nicht, dass ich die Kraft gehabt hätte, dies zu tun. In diesem Moment trifft es mich nochmals mit voller Wucht. Die Erkenntnis, dass ich alle diese Sachen in der falschen Zeit gedacht habe. Dass sie alle in der Vergangenheit liegen. Ich bin nicht an sie gebunden. Ich war es. Denn sie ist tot.

Es ist dieser Gedanke mit dem ich schließlich wieder einschlafe. Ich schlafe unruhig und träume von Schmerz. Ich träume von leblosen Körpern, ausdruckslosen Gesichter und einem fehlenden Herzschlag. Ich träume von ihr, doch sie ist nicht mehr.

„Jack!", weckt mich eine vertraute Stimme einige Zeit später wieder aus meinem unruhigen Schlaf. Blinzelnd öffne ich meine Augen und erblicke meine kleine Schwester Emily, die in mein Krankenhauszimmer stürmt. Hinter ihr tauchen nur Sekunden später die Gesichter meiner Eltern auf, welche sich vor Erleichterung aufhellen nachdem sie mich erblicken.
„Jack!", ruft meine Schwester nochmal, nachdem ich das erste Mal nicht reagiert habe.

„Ja?", frage ich sie mit kratzender Stimme und blicke sie an. Ihr Gesicht ist wie immer erhellt von einem breiten Grinsen, doch ich kann die Unsicherheit klar in ihrem Gesicht erkennen und auch die Angst, die sie noch immer fühlt. Wegen mir. „Hi", antwortet sie schließlich nach einem kurzen Moment und ich grinse sie schwach an. Das Lächeln erreicht meine Augen nicht, doch ich bezweifle, dass meine Schwester dies bemerken wird.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt