Kapitel 25 - Starre

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Jamie

Wir stehen draußen. Ich kann es nicht fassen. Wir stehen wirklich und wahrhaftig draußen. Ein Teil von mir kann noch immer nicht realisieren, dass das hier die Wirklichkeit ist. Dies ist die Realität und es ist so unglaublich schwer zu glauben, denn ich habe nicht darauf gehofft, sie wiederzusehen ohne zusammenzubrechen. Ich spüre die frische Luft, die durch meine Lungen strömt und ich fühle den leichten Wind, der meine Haare umherwirbelt. Ich sehe die leuchtende Sonne, spüre ihre Strahlen auf meiner kalten, blassen Haut und fühle wie sie mich wärmt und heilt. Das natürlichste Medikament, das es gibt und ich habe es so lange missen müssen.

Mir ist klar, dass ich mich nur umdrehen müsste, um das verhasste Krankenhaus hinter mir zu erblicken und beinahe fühle ich die Kälte, die von dem betonierten, grauen Gebäude ausgeht. Doch ich werfe keinen Blick zurück, sondern blicke stur geradeaus und bewundere die Schönheit der Natur vor mir. Es ist so lange her, seit ich das letzte Mal so viel Grün auf einem Fleck gesehen habe. Nun trennt mich keine Glasscheibe von den wärmenden Strahlen der Sonne und es stellt sich keine Wand zwischen mir und die Realität. Innerlich bin ich mir bewusst, dass ich diese Wand selbst aufgestellt und intakt gehalten habe, doch in diesem Moment kann ich nicht anders, als die Schönheit zu bewundern und verdränge die Angst und das Unwohlsein in eine Ecke meines Bewusstseins.

Stattdessen betrachte ich den Wald vor mir mit all seinen schimmernden Grüntönen, von dem hellen Grün der Grashalme bis hin zum dunklen Grün der Tannennadeln. Es ist eine unglaubliche Ansicht. Ich muss immer wieder heftig blinzeln – einerseits, um mich davon zu überzeugen, dass dies die Realität ist und andererseits, um mich an die lebhaften Farben des Waldes zu gewöhnen. In den Büchern, die ich erhalten habe, sind zwar auch Farben dargestellt, doch die Realität kann niemals so intensiv abgebildet werden, wie sie wirklich ist.

Die physische Nähe macht die Farbsensation nun nur noch stärker. Es fühlt sich an, als würde ich erneut Sehen lernen, doch dieses Mal sind meine ersten Eindrücke tatsächlich angenehm. Das Grün des Waldes vermischt sich mit den warmen Brauntönen der Hölzer und Äste und in diesem Moment denke ich, dass ich noch nie zuvor etwas Harmonischeres gesehen habe. Es wirkt alles so richtig, so fehlerlos wie die menschliche Welt niemals sein kann.

Der Frühling setzt ein und vertreibt mit seiner Wärme den Winter und alle seine negativen Eigenschaften. Die Kälte, die Finsternis und die Trauer des Winters werden gedämpft und verschwinden schließlich. Die Tage strecken sich weiter aus und die Sonne schickt ihre heilenden Strahlen länger und wärmer auf die Erde hinab. Das Leben erwacht.

Der Frühling kann den Schaden, den die Jahreszeit des Todes angerichtet hat, nicht beheben, doch er sorgt dafür, dass die Schmerzen gemindert werden und das Leben weitergehen kann. Der Frühling schenkt die Leben, die der Winter genommen hat und gibt die Hoffnung zurück, die im Winter in den Schneewogen verloren ging. Der Wald, der so lange in einer Starre gefangen war, kann endlich wieder auftauen und erneut zu atmen beginnen. Im nächsten Winter wird er wieder in die Starre gezwungen werden. Es ist ein ewiger Kreislauf.

Auch ich fühle mich, als würde ich das erste Mal seit viel zu langer Zeit aus meiner Starre erwachen. Obwohl ich nie in Atemnot war, kann ich zum ersten Mal richtig atmen. Die Laubbäume haben bereits wieder kleine Blätter an ihren Ästen, teilweise sind es erst Knospen und trotzdem kann ich das blühende Leben erkennen, welches aus der Kälte hervordringt.

Die Nadelbäume, die sich jedes Jahr gegen den Blattfall, die Kälte und die Starre wehren und ihre Nadeln behalten, strahlen in ihrer vollen Pracht. Ich bin beeindruckt von ihrer Kraft, ihrer Ausdauer und ihrem Durchhaltevermögen. Es kann kaum einfach sein, durchzuhalten, wenn jeder andere abschaltet und den Kopf hängen lässt. Ich bewundere ihre Stärke und schrecke gleichzeitig davor zurück, denn ein solches Leben kann wohl kaum schmerzlos sein. Die Starre des Winters entzieht zwar jegliches Leben, doch dafür sie gibt eine Immunität vor der Kälte, den Gefühlen und den Stürmen. Sie lässt das Leben erträglich werden, auch wenn man den Preis der Lebendigkeit dafür bezahlen muss. Ich bewundere die Tannen, welche die Kraft haben, ohne diese Starre zu überleben. Ich kann es nicht.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt