Kapitel 26 - Hören und Sehen

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Unmittelbar durchströmt mich die Panik und alle meine Glieder werden stocksteif. Mein Kopf schnellt zu Jamie, welche noch immer wie gebannt auf die Szenerie vor uns starrt und völlig in dem Anblick versunken zu sein scheint. Sie hat offensichtlich nichts von meinem inneren Aufruhr mitbekommen oder lässt sich jedenfalls nichts dergleichen anmerken, denn ihre Haltung bleibt ruhig und gelassen.

Ich hingegen erlebe eine innerliche Krise. Meine Nackenhaare stellen sich auf und ich muss mich darauf konzentrieren, ein Knurren zu unterdrücken. Das Tier in mir ist aufgebracht und ich bin unruhig. Trotz meiner gut ausgeprägten Ohren kann ich nicht erkennen, ob das Wolfsheulen von meinem eigenen Rudel stammt – obwohl ich es stark hoffe – denn dazu ist das Geräusch noch weit genug entfernt. Wenn es ein anderes Rudel ist, dann würde dies noch eine Menge anderer Probleme mit sich bringen. Es würde bedeuten, dass unser Territorium bedroht wird.

Das Einzige, was ich erkennen kann ist, dass es sich nicht um gewöhnliche Wölfe handelt, sondern um Werwölfe. Schon alleine der Fakt, dass normale Wölfe unsere Gegend meiden, würde dafür reichen, aber ich kann den Unterschied im Heulen hören. Im Moment ist es allerdings für mich egal, ob es ein feindliches Rudel ist oder mein eigenes, denn Jamie darf das Heulen nicht hören. Es würde sie ohne Zweifel in Angst versetzen, denn ein Wolfsheulen ist im normalen Fall ein Grund zur Beunruhigung ungeachtet des Wissens, ob es sich um echte Wölfe handelt oder nicht. Es ist ein Instinkt, tief eingegraben in die menschliche Natur. In Jamie würde diese Angst allerdings nur noch verstärkt werden und das kann ich nun wirklich nicht brauchen. Nicht jetzt, wo sie endlich beginnt, sich zu öffnen und aus ihrer emotionslosen Art herauskommt.

Ein Ast trifft mich am Kopf und sofort springe ich in eine defensive Position und bereite mich schon darauf vor meine Gegner anzuspringen, als ich im letzten Moment begreife, dass es keine feindlichen Gerüche in der Nähe gibt. Ein leichtes Knurren entwischt mir trotzdem, doch es ist leise genug, um hoffentlich als Grollen oder Schnaufen abgetan zu werden. Vor mir steht Jamie mit weit aufgerissenen Augen und ich beeile mich, um meine defensive Position wieder aufzulösen und eine weniger drohende Haltung einzunehmen.

Jamie hat noch immer die rechte Hand gehoben, welche sie vermutlich benutzt hat, um mich mit dem Ast zu bewerfen. Ihr Blick wirkt leicht erschrocken, doch vor allem blickt sie mich fragend und nervös an. Ich reibe mir die Stelle am Kopf, an der sie mich mit dem Ast getroffen hat und blicke sie mit einem schiefen Grinsen an. Der Schock ist noch nicht komplett aus meinem System verschwunden und mein Herz pocht noch immer schneller und stärker als gewöhnlich, doch ich will sie nicht noch stärker beunruhigen.

Mich selbst beunruhigt die Situation allerdings mehr als ich zugeben will, denn beinahe hätte ich Jamie angefallen. Hätte ich nicht im letzten Moment die Luft geprüft, sondern – wonach jede Zelle in mir drängte – einfach reagiert hätte, dann wäre ich der Verwandlung erlegen und hätte Jamie angefallen. Es war knapp. Knapper als es sein dürfte.

Ich atme tief ein und wieder aus, versuche meinen Herzschlag wieder in den Griff zu bekommen und schüttle dann kurz den Kopf, um die lästigen Gedanken zu vertreiben.
„Entschuldige", murmle ich zerknirscht. Jamie blickt mich noch immer verdattert und verwirrt an und mustert mich dann eingehend von Kopf bis Fuß. Kurz darauf scheint sie gefunden zu haben, was sie gesucht hat, denn ihr Gesichtsausdruck ändert sich von einem Schlag auf den anderen. Ich habe das Gefühl, als würden ihre Augen vor Neugierde und Freude zu funkeln beginnen.

Bevor ich mich allerdings über diese Veränderung wundern kann, wirbelt sie herum und läuft langsam in Richtung des kleinen Sees in der Mitte der Lichtung. Ich bleibe noch kurz stehen und versuche ihren schnellen Gefühlswechseln folgen zu können, gebe dann aber auf und gehe ihr nach, um zu ihr aufzuholen. Aufgrund meiner längeren Beine bin ich recht schnell auf ihrer Höhe und gehe dann schweigend neben ihr her bis zum Ufer des kleinen Sees. Dort lässt sich Jamie auf die sandige Erde fallen und ich folge ihrem Beispiel und starre auf die Mitte des Sees.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt