Kapitel 29 - Weg von hier

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Jamie

Jeglicher Hunger ist mir vergangen und jegliches Gefühl in mir ist verschwunden. Der Eisblock hat wieder an Masse gewonnen, die Tür wurde verschlossen. In der letzten Zeit habe ich so viel gefühlt, dass es mir auf einmal unglaublich merkwürdig vorkommt, eine solche Leere wieder zu spüren. Die Starre hat mich erfasst und sie fühlt sich fremd an, obwohl sie es eigentlich nicht sein sollte. Die Gefühle sind aus mir hinausgepresst worden und meine Gedanken schreien nicht mehr auf mich ein, sondern kreisen langsam in meinem Kopf.

Obwohl ich mir die Starre zurückgewünscht habe, fühlt sie sich unangenehm an und ich weiß, dass ich Angst haben sollte, doch die Gefühle sind fern. Ich schaue wieder durch einen Nebel, eine Eiswand und ich erkenne die Gefühle, die meinen Körper durchziehen, doch ich fühle sie nicht. Ich bin nichts anderes als ein Beobachter meines eigenen Lebens.

Dr. Thompsens Worte hallen mir nach und umkreisen meine Gedanken wie ein Satellit die Erde. Sie lassen mich nicht los, steuern nicht von ihrer Umlaufbahn ab und drehen unaufhörlich um mich. Ich registriere sie, nehme sie in mich auf, aber ich bin nicht sicher, ob ich sie verstehe.

Ich soll weggebracht werden. Weg von der Stadt, in der ich die letzten drei Jahre meines Lebens verbracht habe und trotzdem keinen Teil davon kenne. Weg von dem Ort, den ich mittlerweile als mein Zuhause akzeptiert habe. Nie zuvor konnte ich solange an einem Ort bleiben und dies verführte mich zu einem falschen Gefühl der Sicherheit, dass ich hier bleiben darf. Aber ich soll weg gehen.

Weg von der Psychiatrie, die mich aus den Fängen der Waisenhäuser gerettet hat und mich von den Schmerzen, niemals gewollt zu sein und es jedes Mal aufs Neue wieder zu erfahren, befreit hat. Weg von Larissa, die sich immer um mich gekümmert hat, ohne je ein Zeichen der Dankbarkeit zu erwarten. Obwohl es ihr Beruf ist, schätzte ich ihre positive Art. Weg von meinem Zimmer in der Psychiatrie, welches mir in den letzten drei Jahren als Schutz und Eigen gedient hat. Weg von allem, was mir vertraut geworden ist.

Weg von Jack.

Obwohl ich es nie wollte und auch nun kaum zugeben will, war er die einzige Person, die mir in den letzten Monaten ein wenig Freude und Hoffnung geschenkt hat und die erste Person, der ich mich je ein wenig geöffnet habe.

Tief in meinem Inneren, hinter der Starre versteckt, weiß ich, dass ich vor allem wegen Jack nicht von hier weg gehen will. Dass ich eigentlich nur wegen ihm nicht weg will. Doch mein sturer Kopf und die Starre, lassen diesen Gedanken nicht zu und können ihn nicht akzeptieren, denn es würde bedeuten, dass ich von einer anderen Person abhängig wäre. Und das darf ich nicht sein. Doch alle Beweise sprechen dafür. Ich habe ihm zugehört, habe ihn angeschaut, mit ihm interagiert, ich habe sogar mit ihm gesprochen.

Ich habe ihm gesagt, dass ich ihm vertraue. Und trotzdem will ich nicht akzeptieren, dass er mir wichtig geworden ist. Denn es könnte mich erneut zerstören und die sonst schon fragile Starre für immer zerstören und mich für immer hilflos der Welt aussetzen. Also akzeptiere ich es nicht.

Ein Klopfen ertönt an der Tür und nur wenige Sekunden später, ohne überhaupt auf eine Antwort meinerseits zu warten, öffnet sie sich. Ohne meinen Blick abzuwenden, begreife ich, dass ein Arzt eingetreten ist, denn es sind weder die schnellen Schritte von Dr. Thompsen noch die längeren, leiseren und vorsichtigeren Schritte von Jack zu hören, sondern schwere, langsame Schritte. Die Schritte kommen näher und stoppen etwa einen halben Meter neben meinem Bett. Ich wende meinen Kopf nicht von der weißen Decke ab, meine Augen sind weit geöffnet und brennen leicht.

Das Klicken eines Kugelschreibers ist zu hören, dann das schnelle Kratzen des Stifts auf Papier. Vermutlich schreibt der Arzt einen Eintrag auf sein Klemmbrett. Dann räuspert er sich. Ich reagiere nicht. Mein Blick ist weiterhin gegen die Decke gerichtet und ich blinzle leicht, um das Brennen in meinen trockenen Augen zu vertreiben. „Nun gut", beginnt der Arzt schließlich, nachdem er akzeptiert hat, dass ich nicht antworten werde.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt