Kapitel 16 - Das Gefühl

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Jamie

Jack sitzt vor mir und es laufen Tränen aus seinen Augen. Es ist mir unklar, wieso er weint, doch obwohl ich dagegen hoffe, ist mir klar, dass es etwas mit mir zu tun haben muss. Sonst würde er nicht hier vor mir sitzen. Trotzdem ist mir nicht klar, wieso genau er weint und mein Verstand sagt mir, dass mich das nervös und ängstlich machen sollte. Dass ich mich unwohl dabei fühlen sollte, jemand anderen beim Weinen zu zu sehen, ohne ihm zu helfen oder einzugreifen.

Doch nichts davon tritt ein. Stattdessen werde ich ungewohnt ruhig und gelassen und blicke ihm furchtlos und offen in die Augen. Seine Tränen stören mich nicht und machen mir keine Angst und lösen auch keine Panik in mir aus, sondern beruhigen mich. Sein leicht tränenverschleierter Blick klärt sich langsam und ich kann die Erleichterung in seinem Blick erkennen. Ich weiß nicht, wieso er erleichtert ist, doch es erleichtert auch mich. Dies ist allerdings nicht das einzige Gefühl, was ich in seinen grauen Augen zu erkennen glaube. Auch eine Zerrissenheit zeigt sich in seinen Augen wieder, eine wilde Mischung aus Trauer, Schmerz und Verzweiflung, die ich darin nicht sehen will und welche mir Angst macht. Jack sollte nicht so aussehen, es ist falsch. Jack sollte lachen und glücklich sein.

Gleichzeitig irritiert und überrascht es mich ein wenig, wie viel ich aus Jacks Augen herauslesen kann, doch es fällt mir so leicht, als würde ich die Empfindungen von einem Blatt Papier ablesen. Instinktiv bin ich mir sofort sicher, dass ich richtig bin und ich die richtigen Gefühle herausgelesen habe. Doch es ist gerade diese Gewissheit, die mich traurig macht und verunsichert, da es mir die Bestätigung gibt, dass Jack wirklich verletzt und traurig ist.

„Es tut mir so unglaublich leid, das ist alles nur meine Schuld." Jacks Stimme ist ein wenig kräftiger als noch Minuten zuvor, doch noch immer brüchig und unsicher. Seine schwarzen Haare hängen ihm zerzaust und ungepflegt ins Gesicht und sein großer Körper ist in sich zusammengesackt, wodurch er kleiner wirkt als er eigentlich ist. Seine breiten Schultern sind ein wenig hochgezogen und der Kopf leicht gebeugt als wolle er sich vor jemanden unterwerfen. Wir blicken uns schon die ganze Zeit starr in die Augen, doch jetzt senkt Jack seinen Blick, als würde er sich schämen oder sich nicht mehr trauen, mir in die Augen zu blicken.

Deshalb bekommt er auch nicht mit, wie ich ihn nun fragend ansehe. Ich kann mir keinen Reim aus seinem Gesagten machen, da mir nicht klar ist, wovon er spricht und was seine Schuld ist. Ich verstehe ihn nicht, weder seine Worte noch sein Verhalten. Ich erkenne seine Gefühle, höre seine Worte und sehe seine Haltung, doch ich kann mir keinen Reim daraus machen. Obwohl er meinen Blick nicht sieht, scheint Jack zu spüren, dass ich ihn nicht verstehe, denn er spricht weiter ohne aufzusehen: „Ich weiß genauso gut wie du, warum du zusammengebrochen bist." Der Satz scheint ihm nur schwer über die Lippen zu kommen, denn er macht eine kurze Pause mit dem Sprechen. Diese nutze ich sogleich um meine rasenden Gedanken zu sortieren. Momentaufnahme von Ereignissen des vergangenen Vorfalls erscheinen vor meinem inneren Auge. Wie ich warte und warte und warte und warte. Wie ich auf ihn warte und wie er einfach nicht kommt.

„Du hattest eine Panikattacke,", Jack stockt bei diesem Wort kurz und fährt abfällig weiter, „weil ich nicht da war um mein Versprechen, dass dir gegeben habe, einzulösen. Ich habe dir versprochen, dass ich wiederkomme und ich bin nicht wiedergekommen. Weil ich nicht sehen konnte, was wichtig ist." Jacks Stimme bricht am Ende des Satzes leicht weg und er wagt es noch immer nicht mich anzublicken. „Es tut mir so leid. Ich habe es vergessen, einfach vergessen... Vergessen, was es bedeutet, etwas zu versprechen. Ich hätte es mir niemals verziehen, wenn dir etwas passiert wäre."

Als ich Jack dabei zuhöre, wie er mir seine Sicht erzählt, merke ich erst wie lächerlich das Ganze wirken muss. Ich bin zusammengeklappt, nur weil er nicht mehr zu mir gekommen ist und seine Versprechen nicht gehalten hat. Es klingt so lächerlich wie der Streit von zwei kleinen Kindern, die wochenlang nicht miteinander sprechen, weil sie sich nicht einigen konnten, wer zuerst mit dem Spielzeugauto spielen kann. Meine Gedanken werden sofort mit Erinnerungen bestraft. Erinnerungen an den Abend und an den Moment, an dem mir klar wurde, dass er sein Versprechen gebrochen hat und auf einmal kommt mir mein Verhalten nicht mehr so lächerlich vor, wenn ich dabei den erlebten Schmerz wieder spüre.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt