Kapitel 6 - Die zweite Begegnung

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Jamie

Ich erwache mit einem Gefühl der Erleichterung, nachdem ich die gesamte Nacht über nur schlecht geschlafen habe. Die Nacht ist für mich nicht mehr eine Zeit der Erholung, sondern das Gegenteil. Es ist ein immer wiederkehrender Teufelskreis des Schmerzes. Ich wache von den Albträumen auf, durchstehe den Tag und kehre zu den Albträumen zurück. Selbst wenn der Tag ermüdend ist und ich immer wieder kämpfen muss, um ihn zu überstehen, bevorzuge ich ihn trotz allem. Ich kämpfe mich mühsam aus meinem Bett hervor, gehe mit schleifenden Schritten zu meinem Kleiderschrank und ziehe mich an. Ein weiterer Tag beginnt.

In der nächsten halben Stunde beschäftige ich mich damit, dass ich in Gedanken versunken in einem Buch herumblättere, welches ich bestimmt schon mehr als fünf Mal gelesen habe, ohne dass ich wirklich etwas davon aufgenommen habe. Dann klopft es an meiner Tür und ich bekomme mein Frühstück von Larissa gebracht. Bevor sie das Zimmer wieder verlässt, meint sie noch, dass ich heute trotzdem eine Therapiesitzung habe, weil Dr. Thompsen ihren Ausflug abgesagt hat. „Ich komme dich in einer halben Stunde abholen", meint meine Betreuerin noch, bevor die Tür endgültig hinter ihr zugeht. Ein weiterer gleicher Tag, den es durchzustehen gilt.

Die halbe Stunde ist schnell um und kurz nachdem ich mein Essen heruntergewürgt habe, klopft es auch schon wieder an meiner Tür und Larissa betritt den Raum erneut. Auf dem Weg zum anderen Zimmer, bleibt es still. Auch Larissa scheint heute nicht in der Stimmung zu sein mit mir zu sprechen. Nach einer kurzen Weile stehen wir vor meinem Therapiezimmer und sie klopft an die Tür. Kurz warten wir auf das übliche Herein von Dr. Thompsen, dann öffnet meine Betreuerin die Tür und ich trete mit gesenktem Kopf ein. Mit dem Blick noch immer auf dem Boden setze ich mich auf meinen Platz.

„Hallo, Jamie", sagt Dr. Thompsen zu mir. Ich blicke stumm auf meine Hosen und entdecke ein kleines Loch, welches mir interessanter erscheint, als das einseitige Gespräch. Es befindet sich ein wenig oberhalb meines Knies und ist nicht größer als ein Stecknadelknopf, doch schon bald wird es sich ausweiten und ein Problem darstellen. Meine Therapeutin lässt sich von meiner Unaufmerksamkeit nicht beirren und redet weiter: „Heute ist unsere Stunde ein wenig ungewöhnlicher, da wir einen Gast haben."

Dieser Satz bringt mich dazu aufzusehen, schließlich habe ich bis dahin noch nicht einmal gemerkt, dass sich jemand anderes im Zimmer befindet. Ich bereue meine Entscheidung, den Kopf zu heben sogleich wieder. Der Gast ist kein Fremder für mich, im Gegenteil er kommt mir fast schon zu bekannt vor. Es ist der Junge von gestern. „Darf ich vorstellen, das hier ist Jack Clarke", reißt mich Dr. Thompsen sogleich wieder aus meiner kurzzeitigen Starre.

Jack, wie er anscheinend heißt, sitzt neben Dr. Thompsen auf einem kleinen Hocker. Trotzdem überragt er sie mit seiner Größe immer noch um ein gutes Stück. Ich mustere ihn kurz argwöhnisch und versuche mir ein genaueres Bild von dem Typen zu machen, der mich gestern praktisch angefallen hat. Am Vortrag fehlte mir dafür die Zeit. Schwarze, etwas längere Haare fallen ihm bis über die grau-bläulichen Augen, die mich mit in einem neugierigen Ausdruck anblicken. Ich blicke emotionslos zurück ohne mit der Wimper zu zucken, obwohl alles in mir dazu drängt wegzurennen und so viel Abstand zwischen uns zu bringen, wie es nur geht. Denn er macht mir einfach nur Angst.

Schließlich stoppt Dr. Thompsen unser Blickduell. „Er wird hier ein Praktikum machen und bei deinen Sitzungen dabei sein", meint sie ruhig unseren Kampf ignorierend. Mein Kopf dreht sich wie von selbst langsam in ihre Richtung und meine Augen wechseln von Jacks Blick zu dem Sonnenblumenbild hinter meiner Therapeutin. Innerlich wirbeln aber meine Gedanken gerade sehr wild umeinander. Ist das überhaupt erlaubt?, frage ich mich. Ich meine, diese Gespräche zwischen mir und meiner Therapeutin sollten doch alle im Privaten bleiben, aufgrund irgendeiner Schweigepflicht, die eigentlich auch Dr. Thompsen betreffen sollte. Was ist mit meiner Privatsphäre?
Weiterhin möchte ich allerdings auch wissen, was gestern geschehen ist. Die Erklärungen fehlen und es gibt keinerlei Hinweise darauf, welche Beweggründe zur gestrigen Tat geführt haben können. Doch trotz der Fragen in meinem Kopf, fehlen mir die Worte– und sie kommen nicht zurück, selbst wenn ich die Fragen stellen wollen würde. Ich habe sie verloren.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt