Kapitel 22 - Menschen

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Jamie

Ungeduldig starre ich an die Wand und dann wieder zum Fenster. Die Vorhänge sind zugezogen und durch einen kleinen Spalt, strömt Licht hinein. Ich spiele nervös mit meinen Händen, verknote meine Finger miteinander und löse sie dann wieder und kaue auf meinen Fingernägeln herum. Dann stehe ich auf und gehe mich wackeligen Schritten zum Fenster. Dort öffne ich die Vorhänge so schwungvoll, dass ich mich dabei beinahe selbst aus dem Gleichgewicht bringe und kann mich erst im letzten Moment noch an den Vorhängen festklammern.

Ich schüttle den Schreck schnell von mir ab und zwinge mein schneller pochendes Herz dazu, sich zu beruhigen und mache mich dann auf den Weg zurück zu meinem Bett. Dort setze ich mich wieder ans Kopfende und versuche herunterzufahren, doch meine Fingern tippen unruhig auf den Bettbezug und meine Füsse zappeln hin und her.

Mein Blick schweift durch mein Zimmer, betrachten die Wände, gehen von der Tür zum Fenster und wieder zur Tür. Ich finde keinen Punkt, den ich fokussieren kann. Mein ganzer Körper summt vor Nervosität und Unruhe, während ich angespannt auf seien Rückkehr warte. Doch ich verspüre auch Angst. Angst, dass sich die Geschichte wiederholen wird und ich erneut an einem leeren Versprechen zu Grunde gehe.

Doch gleichzeitig vertraue ich ihm, denn er hat mir mehr geholfen als alle anderen je zuvor. Niemand hat es geschafft, mein Vertrauen zu erlangen, wie er es getan hat. Niemand hat es überhaupt je wieder geschafft, mein Vertrauen zu gewinnen außer ihm. Mit seiner liebevollen, verschmitzten und interessanten Art und fast schon kindlichen Freude, wenn er seine Geschichten erzählt. Er hat es soweit geschafft, dass ich ihn berühren konnte, ohne dass sich meine Haut anfühlte, als würde sie verbrennen und ich diesen unbändigen Drang zu schreien bekam, und dass ich mit ihm sprechen konnte, ohne Angst zu haben, was mit meinen Wörtern geschehen würde. Die beiden Dinge, von denen ich dachte, ich würde nie mehr dazu fähig sein, sie zu verkraften.

Und trotzdem habe ich vor kurzer Zeit noch eng umschlungen mit einer anderen Person auf demselben Krankenbett, auf dem ich es mir jetzt bequem gemacht habe, gesessen ohne Angst zu haben, dabei sterben zu müssen. Was vor nur wenigen Monaten noch als unmöglich erschien, wurde durch Jack zur Wahrheit. Er macht für mich ertragbar, was für die meisten Menschen zur Normalität gehört. Normalität ist sowieso ein merkwürdiger Ausdruck, sinniere ich vor mich hin. Viele Menschen übersehen in manchen Fällen, dass eine Tatsache, nur weil eine Mehrheit der Menschheit sie akzeptiert oder besitzt, nicht unbedingt die Normalität oder das Beste sein kann. Doch das Absurdeste ist wohl, wie oft die Gesellschaft vergisst, dass das Gegenteil von normal nicht falsch ist und nicht jeder, der nicht in ihren Bereich des Normalen fällt, geändert werden muss.

Ich seufze beinahe lautlos auf und zwinge meine Muskeln dazu sich zu entspannen. Meine Gedanken lassen sich nicht stoppen und kreisen unermüdlich um das Gespräch, das gerade auf dem Gang stattfindet. Die Neugier quält mich und dieses Gefühl überrascht mich, denn es ist selten für mich geworden. In den letzten Jahren habe ich mich daran gewöhnt, es zu unterdrücken, denn tausend Fragen sind schwer, wenn man keine Worte hat. Es war nicht nur, dass ich nicht sprechen wollte, ich konnte es nicht. Die Worte fehlten mir, es gab eine Blockade zwischen dem, was ich dachte und dem, was ich sagen sollte. Es fühlt sich an, als hätte Jack einen Teil dieser Blockade gelöst und das Gefühl, wieder sprechen zu können und es auch zu wollen, war unvergleichlich.

Mit der Rückkehr der ersten Worte ist anscheinend auch die Neugier langsam zurückgekehrt, denn jetzt kann ich nicht anders, als mich zu fragen, was Jack und Dr. Thompsen draußen im Gang besprechen. Ob Dr. Thompsen wütend auf Jack ist? Bei diesem Gedanken steigen sofort Schuldgefühle in mir auf und ich hoffe sehr, dass Jack nicht wegen mir Ärger bekommt. Es ist sowieso schwer daran zu denken, dass er Ärger bekommen könnte, doch der Gedanke, dass ich der Grund dafür sein könnte, macht es noch einmal viel schlimmer. Die Möglichkeit, dass Jack Monika von unseren privaten Momenten erzählt und was ich ihm anvertraut habe, bereitet mir eine Übelkeit im Magen und versetzt mir einen Stich ins Herz. Inständig hoffe ich, dass Jack schweigt.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt