Kapitel 24 - Die Entscheidung

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Jamie

Ich blicke Jack nur verwirrt an. Ein Spaziergang. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn verstehe. Er will hinausgehen und fragt mich auf eine solch förmliche Art und Weise, als würde er mir einen Heiratsantrag machen. Und in diesem Moment erscheint mir die Antwort auf einen Heiratsantrag simpler, als die Antwort auf Jacks Frage.

Draußen erscheint mir fremd. Ich war schon so lange nicht mehr draußen, dass ich kaum noch weiß, wie sich die Sonne auf der Haut anfühlt, ohne dass sich ein Fenster dazwischen befindet oder mich ein Gitter vor der Außenwelt trennt. Es war mir nicht verboten nach draußen zu gehen und ich hatte die Gelegenheit oftmals angeboten bekommen, doch nichts erschien mir schrecklicher, als die einzige Sicherheit, die ich der Psychiatrie hatte, zu verlassen.

Alles da draußen erschien mir gefährlich und nichts an dieser Außenwelt reizte mich genug, um die Wärme meines Zimmers verlassen zu wollen. Ich sah zu viele Arten, wie die Angst mich einholen und wie mich die Welt überwältigen könnte. Doch vor allem hatte ich keine Lust dazu. Warum sollte ich mein Zimmer verlassen, um hinaus zu gehen? Draußen gab es nichts, was besser schien als drinnen und die Gefahr, dass es schlechter sein könnte, war zu groß. Alles in mir weigerte sich, den Schutz meines Zimmers zu verlassen, um nach draußen zu gehen.

Ich wollte nicht und ich konnte nicht nach draußen gehen. Deshalb ging ich nicht und zog es auch nie in Erwähnung. Bis jetzt. Erstmals erscheint mir der Gedanke draußen zu sein, nicht mehr so schrecklich. Ich kann mir vorstellen, wie ich draußen bin, ohne das Gefühl zu haben, dass ich ersticken muss. Es macht mir ohne Zweifel noch immer große Angst und ein leichtes Zittern überkommt meine Hände, welches ich allerdings leicht verstecken kann.

Wenn ich nein sage, wird Jack enttäuscht von mir sein und der Gedanke versetzt mir einen Stich. So lange war es mir egal, was andere Personen von mir denken und ich verspürte nichts als diese leere Gleichgültigkeit, wenn Personen über mich sprachen oder mir ein schlechtes Gewissen machen wollten. Wenn dir egal ist, was andere denken, kannst du auch den Schmerz nicht spüren, wenn sie dich mit Worten verletzen wollen. Doch es fühlt sich auch sehr kalt an. Diese Mauer ist auf einmal nicht mehr da und schon nur der Gedanke daran, dass Jack enttäuscht oder verletzt wegen mir sein könnte, lässt mich schlecht fühlen. Ich habe vergessen, wie viel Einfluss andere Personen haben können, wenn man zulässt, dass ihre Meinung zählt.

Ich möchte nicht nein zu Jack sagen müssen. Doch wenn ich ja sage, dann muss ich raus. Raus in die Wirklichkeit, wo mich keine Fantasien oder Illusionen mehr von der Realität und der Wahrheit schützen können. Wo ich mir nicht mehr einreden kann, dass mein Leben ein anderes ist, als es wirklich ist. Dort wird mir jeglicher Schutz genommen, welchen ich hier oder in der Psychiatrie habe und es stehen keine Personen mehr gleich zur Seite, die mich im Notfall betäuben oder beruhigen könnten. Es ist die Welt der Wirklichkeit. Die Welt von Jack. Mit Jack.

„Ja." Mein Mund spricht das Wort aus, bevor ich vollends begreifen kann, was es für mich bedeuten wird. Im ersten Moment bin ich verdutzt, denn ich merke nicht, dass wirklich ich es war, die gesprochen hat und ich suche die fehlende Bewegung in Jacks Gesicht. Dann erst kann ich die helle, raue Stimme als meine eigene einordnen.

„Ich danke dir", erwidert Jack und ich begreife dass, dass ich seinem Vorschlag wirklich zugestimmt habe. Bevor ich eine weitere innere Krise durchleben kann, steht Jack bereits mit einem Ruck auf und springt auf die Füße. Er wirkt voller Energie, abenteuerlustig und seine Augen strahlen, als er mich anblickt. Ich folge seinem Beispiel und stehe ebenfalls langsam auf. Allerdings mit weitaus weniger Elan und Grazie und stolpere eher, als dass ich sicher zum Stehen komme.

Jack will mich reflexartig festhalten, kann sich allerdings im letzten Moment noch zurückhalten und zieht seine Arme schnell wieder zurück. Stattdessen wippt er nervös auf seinen Fußballen hin und her und wirkt, als würde er gleich vor aufgestauter Energie platzen. Er grinst fröhlich vor sich her und wieder einmal kann ich nur staunen, welche Unbeschwertheit er ausstrahlen und fühlen kann und wie wenig Sorgen er auf einmal zu haben scheint. Seine Bewegungen sind leicht und locker, als würde ihn das Gewicht von allen seinen Problemen nicht niederdrücken und beschweren. Vielleicht tut es das auch nicht, realisiere ich verdutzt.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt