Kapitel 37 - Licht

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Ich zucke zusammen und ziehe mich zurück. Die Angst, dass ich etwas falsch mache, die Situation falsch interpretiert habe und einen riesigen Fehler gemacht haben könnte, überwältigt mich für einen Moment. Doch dieser Moment währt nur kurz, denn Jack zieht mich wieder zurück und seine Lippen legen sich wieder auf meine.

Jack küsst mich vorsichtig, als hätte er Angst etwas falsch zu machen. Er küsst mich, als wäre ich aus Glas und könnte jeden Moment in tausend Stücke zerspringen. Ich kann es ihm nicht einmal verübeln, denn er liegt nicht wirklich falsch. Schon so oft hatte ich das Gefühl, als würde ich jeden Moment zerbrechen und nichts könnte mich wieder reparieren. Doch nicht in diesem Moment. Jetzt habe ich das Gefühl, als wäre ich erstmals wieder vollständig. Als wäre ein klaffendes Loch, eine Wunde in mir aufgefüllt und geheilt worden. Es fühlt sich alles so richtig an. Als wäre ich endlich am richtigen Ort. Ich fühle mich angekommen, aufgefangen und glücklich.

Unglaublich viele Gefühle durchströmen meinen Körper und jedes Einzelne ist positiv. Alle negativen Gefühle sind aus meinem Körper verschwunden, alles Böse scheint die Welt für einen kurzen Moment verlassen zu haben. Die Welt steht still und in diesem unendlichen Moment steht sie mit sich im Reinen. Das Böse ist verschwunden, als hätte es niemals existiert. Als wäre mein Leben immer so schön und perfekt gewesen. Es ist das Einfachste, dies in diesem Moment zu glauben. Denn in diesem Moment ist alles perfekt.

In meinem Inneren herrscht das Gute. Es schlägt das Böse nieder, brutal und ohne schlechtes Gewissen. Schleift es fort, schmeisst es weg, entsorgt es für immer. Weg in den Tartaros, zu Kronos in die Unterwelt, wo es nie wieder gefunden wird. Das Böse gehört zum Bösen und bleibt dort. Der Lösungsweg scheint auf einmal so unglaublich einfach und simpel.
Ich besiege das Böse mit dem Guten, Dunkelheit mit Licht.

Es ergibt alles einen Sinn. Wieso ich mich nie komplett auf Jack einlassen konnte und er mich trotzdem so stark anzog. Wir waren komplette Gegensätze. In mir lag so unglaublich viel Dunkelheit, die sich über Jahre hinweg gesammelt, vergrößert und ausgebreitet hat. Sie hat sich über mich gelegt, mich erstickt und mich übernommen. Jede Tat, jeder Moment in meiner Vergangen ließ das Gute in mir verschwinden, löschte es aus.

Jeder Schlag meines Erzeugers, jede falsche, brutale Berührung von ihm an meinem viel zu jungen und unschuldigen Körper hat etwas in mir zerstört. Die leiser werdenden Schreie meiner Mutter, als das Leben aus ihr wich und meine Gewissheit, dass meine Geschwister jeden Moment folgen würden.

Die Tage oder Wochen, die in meiner Erinnerung nur noch verschwommen und unklar sehe, in denen ich geflohen bin. Ich bin gerannt, ohne eine Ahnung, wohin ich gehe und wo ich landen würde. Schließlich wurde ich entdeckt und aufgelesen. Ich konnte meinen Namen nennen, doch nicht was mit mir passiert ist. Die Worte waren verschwunden und steckten mir in der Kehle fest. Ich wusste nur, dass ich niemals dorthin zurückkehren wollte, woher ich kam. Nicht zurück zu dem Mann, der mir das Leben schenkte, um es mir auf jede mögliche grausame Art und Weise zu zerstören. Um mir Mutter und Geschwister zu nehmen. Um mir das Leben wieder zu nehmen. Um mir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unwiderruflich für immer zu zerstören.

Ich vertraute den Jugendamtsleuten meinen Namen an, doch die Angst verschwand nicht. Die Angst, zurückgeschickt zu werden und meinen Vater wiedersehen zu müssen, war grösser als meine Möglichkeit zu vertrauen.

Erst nachdem die Polizei meinen Vater einige Tage später tot auffand, konnte ich wieder aufatmen. Doch in mir war bereits etwas zerbrochen. Ich weinte. Nicht aus Trauer über seinen Verlust, sondern vor Erleichterung, dass er weg war. Mein Erzeuger war das Monster, das andere Kinder unter ihren Bett suchten, doch im Gegensatz zu diesen Kindern, war mein Monster real. Ich weinte aus Trauer um meine Mutter, die ich immer geliebt habe, um meinen kleinen Bruder, der Schutz brauchte und meine große Schwester, die mich immer beschützt hat. Sie alle waren weg und nur ich blieb übrig.

Die Worte blieben verschwunden. Ich wusste nicht, wohin sie verschwunden waren und es interessierte mich auch nicht mehr, denn es war niemand mehr da, der meine Worte wert gewesen wäre. Obwohl ich sprechen wollte, konnte ich es nicht. Ich fand die Worte nicht, obwohl ich suchte und suchte. Schliesslich versuchte ich es nicht mehr.

Ich vertraute niemanden mehr, fühlte mich von allen verraten und hatte Angst. Alles war böse, die Welt schien dunkel. Ohne Licht, ohne Glück und ohne Hoffnung. Einige Jahre später verstanden auch die Heime gänzlich, dass ich nicht gesund war und die Dunkelheit mich überrannt hatte. Meine Seele war komplett zerstört. Ich sprach nicht, war ein Wrack und trotzdem wurde ich von Heim zu Heim gereicht, denn letzten Endes war ich nur ein Kind unter vielen und da ich still war, fiel ich auch nicht auf. Schließlich kam ich in die Psychiatrie und fand den ersten Ort, der mir wie ein Zuhause erschien. Denn ich durfte bleiben.

Mit jedem dieser Momente wurde die Dunkelheit in mir größer und stärker. Sie breitete sich aus und erdrückte mich. Es ging mir schlechter und schlechter. Ich sah keinen einzigen Weg, der nach oben führte. Das Licht wurde zusammengedrückt und immer weiter in die hinterste Ecke meines Seins gedrängt, bis ich es schließlich nicht mehr finden konnte.

Jack ist reines Licht – er besiegt mich. Er verdrängt die Dunkelheit in mir. Die Welt ist nicht böse, nicht alle Menschen sind böse. Mein Vater war böse, mein Vater war Dunkelheit. Doch er war es. Er ist es nicht mehr, schon lange nicht mehr. Er ist tot und teilt sein Dasein mit Kronos im Tartaros. Er ist weg, verschwunden und kann mir mein Leben nicht mehr zerstören. Die einzige Person, die mein Leben noch zerstört, bin ich selber.

Noch immer liegen Jacks leicht raue Lippen auf meinen und küssen mich. Noch immer explodiert mein Inneres vor Emotionen und ich bin erfüllt von Freude, Glück und Licht. Noch nie zuvor habe ich mich so leicht und frei gefühlt. Die Dunkelheit ist weg. Sie wurde von Jack besiegt. Es ist egal, was in der Vergangenheit geschehen ist und es ist egal, was die Zukunft noch mit mir vor hat, das Einzige, was zählt, ist die Gegenwart. Die Gegenwart, welche voller Licht ist.

Langsam und vorsichtig lösen sich Jacks Lippen von meinen. Unser Kuss dauerte nur kurz, doch fühlte es sich wie Unendlichkeit an, in der ich genug Zeit hatte, um in meinen Gedanken zu realisieren. Realisieren, dass ich endlich frei bin.

Es ist vorbei. Der Krieg ist vorüber. Ich habe gesiegt und wurde nicht besiegt von mir selbst.
Ich bin frei von der Dunkelheit, frei von meinem Vater nach all dieser Zeit. Er hängt endlich nicht mehr wie ein Schatten über meiner Existenz, sondern lässt mich das Licht erreichen.
Endlich bin ich bereit zu lachen, zu lieben und zu leben.

Ich weine zum ersten Mal seit Jahren ohne dabei von Panik erfüllt zu sein. Ich weine vor Glück und fühle mich erlöst, frei, leicht. Es ist befreiend und alles fühlt sich leicht, einfach an.
Jack blickt mich erschrocken an und streicht mir vorsichtig über die Wange, um die Tränen wegzuwischen, die mir noch immer unnachgiebig aus den Augen strömen. Ich kann sie nicht stoppen, doch ich will es auch nicht, denn die Tränen fühlen sich gut an.

„Wieso weinst du?", fragt er leise und besorgt. Ich blicke ihn an und lächle leicht. Es ist ungewohnt diese Muskeln zu benutzen und gleichzeitig ein wunderschönes Gefühl. Ein weiterer Glücksschauer durchfährt mich, obwohl die Tränen noch immer über mein Gesicht fließen. „Ich bin glücklich." Ich lache leicht auf und streiche mir einige Tränen aus den Augen. „So unglaublich glücklich." Jacks besorgte Miene weicht und er blickt mich mit einem sanften Lächeln an. Ich erwidere seinen Blick und halte ihm stand, ohne Angst vor dem Glück.

Doch Jacks Ausdruck bleibt nicht lange glücklich. Seine Gesichtsmuskeln verziehen sich und bilden eine ernste Miene. Sein Lächeln verschwindet und seine Stirn verzieht sich angestrengt. Verunsichert blicke ich ihn an, fragend, ob ich einen Fehler gemacht habe. Ist er nicht froh, dass ich glücklich bin? War der Kuss falsch, bereut er ihn? Jack schluckt unsicher, ist nervös und ich sehe, wie er langsam und tief Luft holt. Sein Atemzug klingt zittrig, ängstlich.

Schließlich beginnt er langsam zu sprechen. „Jamie...", er bricht erneut ab, blickt kurz zu Boden und ich sehe seine Hände, die unruhig miteinander spielen und sich beschäftigen. Er wirkt wie ein kleiner Junge vor seiner Einschulung. „Ich glaube... Nein, ich glaube es nicht." Er schnauft kurz auf, ein nervöses Lachen entkommt seinen vollen Lippen. „Ich weiß es. Jamie, ich habe mich in dich verliebt." Seine unruhigen Hände stoppen, sein Gesicht breitet sich zu einem breiten Grinsen aus, das Grinsen, das ich am meisten mit Jack verbinde. Frei, voller Freude und ungezügelt. Seine Augen strahlen.

Ich küsse ihn erneut. Denke nicht an die Dunkelheit, vergesse die Probleme.
Ich genieße das Licht, spüre die Freiheit.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt