Kapitel 35 - Macht

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Verlegen und unwohl senke ich meinen Blick für einen kurzen Moment, bevor ich wieder aufblicke und Jack verständnislos anstarre. Er blickt mir weiterhin in die Augen und wendet sich nicht ab, um seine Aussage zu unterstreichen. Langsam schüttele meinen Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass seine Aussage falsch ist. Ich weiß, wie ich aussehe und ich weiß, dass mein Leben seine Spuren an mir hinterlassen hat.

Mein Aussehen ist nicht außergewöhnlich. Hellbraune Haare, braune Augen, eine normale schmale Nase, ein normaler Mund, normale Augenbrauen, normale Wimpern. In einem anderen Leben wäre ich vielleicht hübsch. In diesem Leben sind meine Haare allerdings durchgehend zerzaust und ungepflegt. Meine Augen sind matt und werden durch tiefe Augenringe geziert, welche durch die Albträume nicht mehr zu verschwinden scheinen. Ich habe durchgehend eine blasse Haut und einen kränklichen Ton in den Wangen anstatt ein lebendiges Rosa.

Doch es hat mich bisher nie gestört. Ich hatte nie die Zeit oder die Kraft, mir über sowas Gedanken zu machen, wenn mich mein Leben bereits an meinen persönlichen Abgrund getrieben hat. Selbstzweifel und Gedanken über den eigenen Körper haben für mich nicht nur nie Sinn ergeben, die Möglichkeit dazu ist mir gar nie erschienen. Bis jetzt.

Ich denke über meine blasse Haut nach, meinen Körper, der abgemagert und muskelfrei ist durch Jahre der Appetitlosigkeit und der Antriebslosigkeit. Die gesamte Energie von mir wurde darauf verwendet, meine Psyche beieinander zu behalten, es blieb nichts übrig für meinen Körper. Ich denke an die Narben, die unter meinen Kleidern versteckt sind. Narbengewebe, dass sich über große Teile meiner Haut erstreckt und trotz der langen Zeit noch immer noch nicht komplett verheilt ist, noch immer teilweise eine rote Farbe tragen und physisch schmerzen.

Ich bin nicht schön und schon gar nicht wunderschön. Mein Leben hat mir meine Chance dafür genommen, bevor ich überhaupt ein Mitspracherecht haben konnte.

Mir wird erst klar, dass ich weine, als warme Finger mein Gesicht berühren und die Tränen sanft wegwischen. Mit verschwommener Sicht blicke ich in Jacks Gesicht und kann eine besorgte und schmerzverzerrte Miene erkennen. „Es tut mir leid. Ich wollte nichts Falsches sagen. Es... es kam einfach so heraus. Aber du verdienst Komplimente." Jacks Worte sollen beschwichtigend und beruhigend klingen, doch sie wirbeln die Emotionen in mir nur noch mehr auf. Mit vorsichtigen Bewegungen streicht er mir über den Arm, über die Schultern und übers Gesicht; er ist ein wenig hilflos, weiß nicht, wie er reagieren soll.

Ich senke meinen Blick wieder, spüre wie seine Hand dabei von meinem Gesicht weicht und wie die Tränen aus meinen Augen über die Nase fließen und von dort auf den Boden tropfen.
„Lüg mich bitte nicht an", flüstere ich leise und erstickt. Ich weiß, dass Jack meine Worte versteht, denn ich höre wie er scharf die Luft einzieht. Kurz ist es still. Unsicher hebe ich den Kopf wieder ein wenig, um Jacks Gesicht und seine Emotionen sehen zu können.

Seine Augen sind vor Entsetzen geweitet, die Augenbrauen zusammengezogen und der Mund steht leicht offen. Er hat meine Antwort nicht erwartet. „Sag mir einen Grund, warum ich dich anlügen sollte", flüstert er mit eindringlichen Worten und streicht mir erneut über meine Wange, die noch immer durch Tränen befeuchtet wird. „Welchen Nutzen würde ich daraus ziehen, wenn ich dir falsche Komplimente machen würde?"

Trotz seiner Wortwahl klingt seine Frage nicht sauer oder wütend, sondern vielmehr flehend und leicht verzweifelt, als wäre meine Antwort entscheidend. Er klingt, als sollte mir die Antwort klar sein, die für ihn die Richtige ist, doch stattdessen ist da nur diese Angst, die sich schon seit dem Anfang tief in mir versteckt hält und mich immer begleitet.

„Dass ich dir vertraue", flüstere ich leise. Das Sprechen fällt mir noch immer schwer. Nicht nur, weil meine Stimmbänder nicht mehr an diese Töne gewöhnt sind, sondern auch, weil ein Teil in mir noch immer die Worte zurückhalten will. Es ist schwer, sowohl für Körper als auch Geist, doch ich brauche die Gewissheit. Mein Geist und mein Verstand wollen die Worte eigentlich nicht gehen lassen, denn was, wenn sie wieder gegen uns verwendet werden?

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt