Kapitel 1 - Mein Leben

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Jamie

Während mein Blick kurz aus dem Fenster schweift, bemerke ich abwesend, dass Wolken den Himmel bedecken. Die Sonnenstrahlen kämpfen sich nur zögerlich durch die Wolken und das einzige Fenster in meinem Zimmer hindurch und malen dort Schatten auf den Boden, wo die Gitterstäbe die fahlen Lichtstrahlen unterbrechen. Mein Fenster ist vergittert, wie alle anderen hier auch. Den Blick wieder abwendend, lasse ich ihn weiter durch das Zimmer streifen, welches nur durch das schwache Licht von draussen erhellt wird.

Uninteressiert bemerke ich ein weiteres Mal, wie karg es hier eingerichtet ist: Ein klobiges Bett mit einer harten Matratze, welches an Wand und Boden festgeschraubt ist, worauf sich unordentlich eine Decke und ein paar Kissen verteilen. Ein Waschbecken befindet sich neben der Tür, die wie gewöhnlich abgeschlossen ist. Auf dem Waschbecken befindet sich meine Zahnbürste sowie Zahnpasta und eine weiche Kinderbürste. In meinem Hinterkopf macht sich der Gedanke breit, dass ich schon lange die Zähne geputzt haben sollte, doch der Gedanke schwebt durch meinen Verstand und findet kein Interesse bei mir, bevor er wieder in eine Ecke gedrängt wird.

Gegenüber von meinem Bett steht ein Bücherregal, bestückt mit zerlesenen Büchern, daneben befindet sich ein Kleiderschrank mit einigen Kleidungsstücken. Beide sind, wie das Bett, an der Wand festgeschraubt – um zu vermeiden, dass ich irgendetwas zerstören könnte. Versteckt unter meinem Bett, für niemanden außer mir zugänglich, befindet sich schließlich noch eine Truhe mit meinen wenigen persönlichen Gegenständen. Ich lasse meine Gedanken sich nicht weiter um die Thematik meiner persönlichen Gegenstände drehen und wende schnell meine Aufmerksamkeit davon ab, bevor ich sie wirklich registrieren kann.

Wenn man in meinen Raum tritt, bekommt man nicht das Gefühl angekommen zu sein. Es wird vielmehr das Gefühl vermittelt, als würde ich jeden Moment wieder aufbrechen und von hier verschwinden. Ein Teil von mir teilt dieses Gefühl und drängt danach, so schnell wie es geht von hier zu verschwinden. Der Rest von mir kümmert sich nicht wirklich. Ich habe mich hier nie wirklich niedergelassen, es nie akzeptiert, dass ich hierbleiben werde. Dass ich hierbleiben muss. Auf eine mir noch nicht ersichtliche Zeitspanne. Vielleicht bis ans Ende meines Daseins, bis ich alt und gebrechlich bin. Ich weiß es nicht.

Ich drehe mich nochmals um meine eigene Achse und betrachte mein Zimmer, mein unfreiwilliges Zuhause, das ich nie gewählt habe. Der Ort, an dem ich lebe – an dem ich leben muss – weil es sonst nirgends einen Platz für mich gibt. Dies ist meine erzwungene Heimat in einer Psychiatrie inmitten von einem Haufen Nichts. An einem Ort, den ich weder kenne noch je kennen lernen werde. Ich lebe hier nun schon seit drei Jahren, seit meinem vierzehnten Lebensjahr, nachdem die Heime nicht mehr mit mir klar kamen und sie sich dafür entschieden, mich hier in Vergessenheit raten zu lassen.

Völlig in meinen Gedanken und meiner eigenen Welt versunken, bemerke ich meine Betreuerin Larissa erst, als sie reinkommt und mich mit ihren Worten aus meiner Starre löst.
„Jamie, kommst du? Du hast Therapiestunde." Ihre Worte klingen sanft und zugleich auffordernd, doch ich sehe sie lediglich mit einem leeren Blick an. Worte haben sie hier noch nie von mir gehört und dies werden sie wohl auch nie. Dabei ist es nicht nur so, dass ich nicht sprechen will. Vielmehr finde ich die Worte nicht mehr. Meine Vergangenheit nahm sie mir und gab sie nicht mehr zurück. „Gut, Dr. Thompsen wartet bereits auf dich." Larissa redet weiter, mein Schweigen ignoriert sie gekonnt. Mittlerweile bin ich schon lange genug hier, dass sie meine Angewohnheiten kennt und sich an diese gewöhnt hat.

Larissa ist eine jüngere Frau, doch ihr Alter ist für mich kaum einzuschätzen. Vielleicht ist sie 25, vielleicht auch 40 Jahre alt. Ich kann es nicht sagen, doch meine Aufmerksamkeit liegt auch nicht allzu lange auf dieser unbeantworteten Frage. Erstens reichen meine Menschenkenntnisse kaum dazu aus, zweitens hilft mir ihre strenge Frisur mit den braunen, zurückgekämmten und hochgebundenen Haaren auch nicht gerade dabei, dass ich sie einschätzen könnte und drittens interessiert es mich nicht wirklich. Sie ist nett und hilft mir, wenn ich Hilfe brauche, egal worum es sich handelt. Larissa mag eine gute Frau sein, doch dabei endet es auch schon. Sie ist trotzdem wie alle anderen und die Worte bleiben in ihrer Anwesenheit verschwunden. Sie ist trotzdem ein Mensch.

Langsam trotte ich ihr hinterher, als sie auf den Gang hinaustritt und folge ihr auf dem langen, hellen Weg. Einige Fenster lassen normalerweise Tageslicht hinein und Bilder mit Blumen hängen an den bleichen Wänden, doch schlussendlich ist der Gang inhaltsloser als mein trostloses Zimmer. Nach nur einigen wenigen Metern stehen wir vor dem Zimmer, in dem meine Therapiestunde stattfindet. Meine Therapiestunde, wie ich sie jeden Tag habe. Jeden Tag am gleichen Ort zur gleichen Zeit und mit der gleichen Person. Eine Therapiestunde, die mir mit meinen Problemen helfen und Fortschritte erzielen soll, obwohl wir noch nie einen Schritt weitergekommen sind und noch nicht einmal an der Oberfläche der Probleme gekratzt haben. Es ist jeden Tag der gleiche triviale und träge Tagesablauf und an keinem Tag verspüre ich auch nur das geringste Verlangen hier zu sein. Noch nie hatte ich auch nur annährend das Gefühl, dass ein Wort meine Lippen verlassen könnte.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt