Kapitel 12 - Abwesenheit

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Jamie

Unruhig gehe ich in meinem kargen Zimmer auf und ab. Mein Blick wandert immer wieder auf die Uhr. Das Ticken des Zeigers dröhnt in meinen Ohren, als würde es mich verspotten wollen. Als würde es mir zeigen wollen, dass ich schon viel zu lange auf Jack warte. Es sind bereits zwei Stunden seit der Therapiestunde vergangen und Jack ist noch immer nicht aufgetaucht. Das Gespräch mit Dr. Thompsen kann nicht so lange gehen und normalerweise kommt er immer direkt nach der Stunde zu mir, doch er ist nicht hier. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jack ein solch langes Gespräch mit Dr. Thompsen aushalten würde. Schließlich kenne ich die Gespräche mit ihr und habe auch Jacks Reaktion darauf schon mehrmals beobachtet.

Ich laufe weiterhin auf und ab. Vom Bett zur Tür und wieder zum Bett. Wenn es so weiter geht, hinterlasse ich bald Fußspuren auf dem Boden. Meine Nervosität steigt mit jeder Strecke, die ich zurücklege mehr und mehr. Das Gefühl der Unruhe in mir steigt immer weiter an, verursacht ein widerliches Ziehen. So viel kann Monika ihm doch nicht erzählen. Angst durchzuckt meinen gesamten Körper und ich stoppe mein Auf- und Abgehen. Stattdessen beginne ich unkontrolliert zu zittern. Vielleicht ist ihm etwas passiert und er hat sich verletzt und liegt nun irgendwo halbtot.

Oder er hat mich einfach vergessen oder wollte einfach nicht kommen. Vielleicht hat er sich entschieden, dass ich die Anstrengung und Mühe trotzdem nicht wert bin. Vielleicht hat er endlich eingesehen, dass es einfacher und besser für ihn ist, wenn er nicht mehr zurückkehrt. Aber er hat doch gesagt, dass er kommen wird? Wieso würde er es sagen, wenn er es nicht meint? Hat er mich angelogen? Bin ich zu viel? Zu wenig?

Meine Gedanken werden mehr und mehr und schwirren in meinem Hirn umher. Es fällt mir immer schwerer, Wörter in der richtigen Reihenfolge aneinander zu reihen oder klare Ideen auszubilden. Ich verstehe nicht. Panik steigt in mir an und lähmt alle meine Glieder, lässt sie unkontrolliert zittern. Angst durchströmt mich und gefriert meinen Körper. Auf einmal fängt meine Sicht an verschwommen und unklar zu werden. Die Strukturen meiner Umgebung werden unscharf und es ist es schwer, etwas anderes als Konturen zu erkennen.

Alles beginnt sich zu drehen und ein Schwindel zersetzt mein Hirn. Wieso kommt er nicht? Mein Atem geht flacher und schneller. Es fühlt sich an, als würde nicht mehr genügend Sauerstoff bis in meine Lunge gelangen. Hat er es nicht versprochen?

An den Rändern meines Sichtfelds taucht eine beängstigende, schwarze Dunkelheit auf, welche sich langsam in Richtung Mitte ausbreitet und ich falle auf die Knie, weil der Schwindel stärker wird. Hat er mich angelogen?

Ein grauenerregendes Kreischen ertönt, welches mir bis in die Knochen dringt und meine Angst weiter vergrößert und mich weiter in mich zusammenbrechen lässt, bis ich auf meinem Rücken liege. Er hat mich verlassen.

Das Kreischen verstummt und ein Keuchen tritt an dessen Stelle. Mein Keuchen. Ich keuche, schnappe nach Luft. Er ist gegangen. Es wird leiser und mein Atem geht langsamer, schwerer. Das Letzte, was ich mitbekomme, bevor die Dunkelheit mich vollkommen umschlingt, ist wie das Geräusch meines Atems vollständig verstummt.

Ich bin alleine.

Jack

Ich renne so schnell ich kann zurück zur Psychiatrie. Nur wenige Minuten zuvor bin ich den Weg noch in der anderen Richtung gerannt, bevor mich die Erkenntnis voller Wucht getroffen hat. Ich kann nicht gehen. Ich kann sie nicht alleine lassen. Meine Wolfinstinkte waren schon vorher die ganze Zeit angespannt und nervös, ich hätte eher merken müssen, dass ich Jamie nicht einfach verlassen kann. Ein Gefühl in mir sagt mir, dass ich gerade einen schrecklichen Fehler begangen habe. Schließlich weiß ich doch, wie instabil Jamie ist und wie wichtig jede einzelne Überlegung bei ihr ist.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt