Kapitel 9 - Müdigkeit

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Jamie

Er ist weg. Jack ist wieder weg. Sein Praktikum ist beendet und er geht wieder in seine Schule, zurück zu seinen Freunden, seiner Familie. Zurück zu seinem Alltag, der für ihn normal ist. Ich kenne die Schule nicht und damit meine ich nicht, dass ich die Schule von Jack nicht kenne. Ich habe im Allgemeinen keinerlei Erfahrungen mit Schulen, da ich nie selbst in einer war. Alles was ich weiß und kann, habe ich in den Waisenhäusern und hier in der Psychiatrie gelernt. Für die Sachen, die ich lernen muss, reicht das längstens, doch die Schule ist ja nicht nur da, um zu lernen. Laut Dr. Thompsen vermittelt sie auch soziale und andere Kompetenzen, die man später im Leben brauchen wird. So wie Jack geklungen hat, mag er die Schule nicht besonders, ich hingegen würde viel dafür geben, um wie alle anderen einfach dorthin gehen zu können. Doch das ist unmöglich.

Ich überlege, was Jack wohl in diesem Moment gerade macht. Vielleicht hat er gerade eine Unterrichtsstunde und hört dem Lehrer zu oder er hat Pause und lacht zusammen mit seinen Freunden. Dieser Gedanke macht mich traurig. Ich bin alleine hier und versuche irgendwie mein Leben in den Griff zu bekommen oder versuche vielmehr, dass ich nicht noch tiefer falle, während andere ihr glückliches Leben verbringen, wo ihre grössten Probleme schlechte Noten sind. Wie kann das fair sein?

Doch gleichzeitig frage ich mich auch, wieso Jack überhaupt versprochen hat, zurückzukommen. Schließlich hat er gar keinen wirklichen Grund. Sein Praktikum ist beendet und er kann diesen schrecklichen Ort hier endlich wieder verlassen. Manchmal denke ich, dass man die Psychiatrie eigentlich mit einem Krankenhaus vergleichen könnte. Beides sind Häuser der Trauer, sowohl für die Angehörigen als auch für die Betroffenen. Doch dann fällt mir ein, dass das Krankenhaus auch ein Ort der Freude und ein Ort des Lebens ist, während in der Psychiatrie nur der Tod und das Elend haust.

Genau deswegen verstehe ich auch nicht, wieso Jack zurückkehren will. Er hat ein perfektes Leben, seine einzigen Probleme sind die Schule und er könnte diesen Ort hier einfach wieder vergessen. Jack könnte den Kontakt abbrechen und hätte mich so wieder aus seinem Leben gestrichen, schließlich habe ich keinerlei Möglichkeiten mit ihm Kontakt aufzunehmen. Er würde nie wieder von mir hören und könnte sein Leben glücklich weiterführen. Doch er tut es nicht, obwohl es die rationalste und beste Entscheidung wäre. Ich verstehe ihn und seine Denkweise einfach nicht.

Jack

„Jack, ich warte auf eine Antwort." Die nasale Stimme von Mr. Jones reißt mich aus meinen Gedanken. Ich war bis vor wenigen Sekunden noch an ganz anderen Orten und habe glücklich vor mich hingeträumt. Es war schön, entspannend und glücklich. Deswegen habe ich auch keine Ahnung, welche Frage mir soeben gestellt wurde. Es fällt mir schon wieder schwer, mich daran zu erinnern, welches Fach wir haben.

Meine Gedanken sind rund um die Uhr bei Jamie. Ich frage mich, woran sie denkt, was sie macht, wie es geht und wo sie gerade ist. Meine Mate geht mir nicht mehr aus meinem Kopf und lässt mich alles andere vergessen. Auch meine Aufmerksamkeit in der Schule ist noch weiter gesunken, als schon zuvor. Meine Motivation schwindet und meine Konzentration ist flüchtig und nie bei den richtigen Dingen.

„Jack? Ich warte noch immer auf eine Antwort." Der abwartende Blick meines Lehrers wird immer genervter und ungeduldiger. Er mag es nicht, wenn seine Schüler nicht aufpassen und merkt, dass dies gerade bei mir der Fall ist. Ich hingegen habe noch immer keine Ahnung, was die Frage war, weswegen es mir dementsprechend auch schwer fällt sie zu beantworten. Auch Mike, der mir sonst in solchen Situationen eigentlich eine Hilfe ist, hat nicht zugehört und ebenfalls keinen blassen Schimmer, denn er zuckt unauffällig kurz mit den Schultern und keiner aus dem Rudel sonst hat die gleiche Klasse wie wir.

„Ich weiß es nicht, tut mir leid, Mr. Jones", knicke ich schließlich ein, nachdem ich einen kurzen Moment noch verzweifelt nach einer Ausrede suche, welche allerdings nicht kommt.
„Ich bitte Sie darum, in Zukunft ein bisschen aufmerksamer im Unterricht zu sein. Ihre Noten leiden sonst nur noch mehr darunter und das können Sie sich beim besten Willen nicht leisten." Mit einem letzten enttäuschten Blick wendet sich mein Lehrer ab und stellt die gleiche Frage an einen anderen Schüler, welcher sie sogleich souverän beantwortet. Ich merke mit einem unguten Gefühl, dass ich sie auch nicht hätte beantworten können, wenn ich die Fragestellung gewusst hätte. Ich könnte nicht einmal sagen, um welche Sachlage es sich darin handelt. Die Frage überfordert mich komplett.

Mate - Schreie ohne VernunftWo Geschichten leben. Entdecke jetzt