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Kühle Morgenluft strich mir scharf wie ein Messer über das Gesicht. Ich zog mir den Schal noch etwas enger an den Hals, damit auch wirklich kaum etwas dieser scharfen Kälte meinen empfindlichen Hals erreichte. Dann schloss ich noch den obersten Knopf meines Mantels. Das war ungewöhnlich für mich, weil ich diesen Knopf normalerweise grundsätzlich offen ließ. Ich bekam sonst immer das Gefühl, in meiner Freiheit eingeschränkt zu sein. Aber heute pfiff ich darauf! Es war einfach zu kalt!
Aber wo bleiben eigentlich meine Manieren? Mein Name ist Irene Pawlow, ich bin fünfundzwanzig Jahre jung, studiere Medizin und lebe seit knapp einem Jahr in Baltimore. Viel interessantes ist mir in meinem Leben noch nicht passiert, muss ich gestehen. Von dieser einen Begegnung mal abgesehen. Diese Begegnung hat mein Leben ziemlich verändert. DIESER MANN hat mein Leben ziemlich verändert. Und nun, es ist knapp fünf Monate her, dass wir uns begegnet sind, möchte ich von ihm erzählen. Von dem Mann mit den vielen Geheimnissen und den Augen, so blau und kalt wie das Eis...

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Das ohrenbetäubende Klingeln meines Weckers zog mich aus verwirrten Träumen zurück in die Gegenwart. Ich tastete blind nach ihm, schaltete ihn aus und öffnete langsam die Augen. Die Sonne schien bereits in mein Schlafzimmer und erfüllte es mit hellem Licht und Glanz. Durch das Fenster, welches ich über Nacht offen gelassen hatte, drang das leise Zwitschern der Vögel. Wirklich eine wunderbare Art, aufzuwachen. Diese Übergänge von Traum zur Realität. Und dann auch noch so ruhig. Einfach herrlich!
Ich setzte mich aufrecht und rieb mir die Augen. Der Laubbaum vor dem Fenster warf einige Schattenflecken auf meinen blutroten Velourteppich. Es sah wundervoll aus.
Ich stand auf, gähnte und streckte mich. Dann lief ich hinunter in die Küche und kippte mir etwas Müsli in eine kleine Glasschüssel. Damit ging ich auf die Terrasse. Neben meine Schüssel legte ich, wie jeden morgen, mein Sudokuheft. Ich liebte Sudoku! Mein Großvater hatte das mal gemacht, als ich noch kleiner war und es hatte mir so gut gefallen, dass er es mir erklärt hat. Seitdem saß ich da sehr häufig dran.
So auch diesen Morgen. Ich war gerade dabei, eine Reihe komplett auszufüllen, als plötzlich das Telefon klingelte: "Jetzt schon? Ich bin doch gerade erst aufgestanden!", stöhnte ich und lief zum Telefon: "Pawlow?", murrte ich. Es klang gereizter, als ich eigentlich war: "Hallo, Irene!", kam es quirlig vom anderen Ende. Oh nein! Es war meine beste Freundin Constanze. Ich liebte sie wirklich als wäre sie meine Schwester, aber dass sie schon morgens so laut und quirlig sein konnte, das würde ich nie verstehen!
Um diese Uhrzeit wollte ich IN RUHE frühstücken, Kaffee trinken und rätseln. Und das versuchte ich Constanze jeden Morgen aufs neue klarzumachen: "Guten Morgen, Constanze." "Irene? Du klingst zerknittert. Alles in Ordnung?" "Constanze, ich bin gerade erst aufgestanden! Erwarte nicht von mir, dass ich danach gleich sofort wach bin und herumhüpfe wie ein Flummy!" "Alles klar, bleib ruhig!" Ich gähnte nur: "Oh mann, Irene! Du verpennst noch dein Leben!" Ich verdrehte die Augen. Wieder diese Leier: "Nein, Constanze, das tue ich nicht." "Doch, tust du! Wie alt bist du? Siebzig?" Ich rieb mir das Nasenbein. Langsam nervte es mich! Jeden Morgen diese Diskussion, bloß weil ich mein Leben etwas anders gestaltete als andere in meinem Alter. Andere gingen auf Partys, ich blieb lieber daheim und las ein Buch. Oder machte einen Spaziergang. War das denn so abwegig? Ich fragte Constanze: "Ich bin immer noch fünfundzwanzig. Ist es denn so schlimm, dass meine Interessen anderen Dingen gelten?" "Deine Interessen sind für alte Leute!", versuchte sie zu protestieren. Doch ich konterte sofort: "Nein, meine Interessen sind vielleicht etwas speziell, aber nicht gleich für alte Leute! Kennst du das Sprichwort: 'Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom!' ?" Ich hörte Constanze seufzen: "Ich mache mir nur Sorgen um dich." "Das ist lieb von dir. Aber das brauchst du wirklich nicht! Nur weil ich nicht wie wild abfeiere oder jede Woche eine neue Beziehung beginne, so wie manch anderer, bin ich noch lange nicht krank!" Für einen Moment herrschte Stille. Dann fragte sie, jetzt in einem normalem Ton: "Aber du kommst schon zur Uni, oder?" "Selbstverständlich komme ich!" "Supi! Dann sehen wir uns dort! Bis später, Süße!" "Bis später,Constanze." Ich legte auf und seufzte. Himmel, warum musste das bloß jeden Morgen so gehen? Warum konnte Constanze meine Interessen nicht einfach respektieren? Klar, sie wollte mir nichts böses, aber langsam nervte es mich dann doch etwas...
Ich kehrte zu meinem mittlerweile selbstklebenden Müslibrei zurück. Der Kaffee war fast kalt. Prima. Ich setzte mich. Was ich dann sah, ließ mich kurz leise aufschreien: Hatte da etwa ein Vogel seinen Dreck auf meinem schönen Sudoku gelassen?! Was war heute los? Die Frage war: Konnte es noch schlimmer kommen? Bestimmt konnte es! Das wusste ich zu dem Zeitpunkt zwar noch nicht, aber das würde ich schon sehr bald zu spüren bekommen...

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