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"Guten Morgen, liebe Studentinnen und Studenten. Darf ich Ihnen den forensischen Psychiater Dr. phil. Hannibal Lecter vorstellen? Er wird hier in nächster Zeit meine Vorlesungen übernehmen." Ich erschrak erneut. Dr. Hannibal Lecter? Der Dr. Hannibal Lecter? Das konnte nicht sein! Ich hatte mein großes Vorbild angerempelt?! So viel hatte ich über ihn gelesen und es war ein großer Wunsch von mir gewesen, ihn einmal zu treffen! Und dann rempelte ich ihn einfach an?! Das war mit Abstand das Peinlichste, das mir je hätte passieren können!
Lecter sah Professor Rudolphus aufmerksam an, wartete, bis dieser vom Lesepult zurücktrat und sich mit einem Stuhl in die Ecke setzte. Dann trat er selbst an das Pult. Im Saal herrschte Stille: "Tja, nun also auch noch einmal von mir: Guten morgen, liebe Studentinnen und Studenten." Ein leises Raunen ging durch die Sitzreihen, ich blieb jedoch stumm. Es war mir einfach zu unangenehm! Und ich wollte nicht, dass er mich bemerkte.
Lecter fuhr fort: "Wie Professor Rudolphus bereits freundlicherweise angekündigt hat, halte ich hier als Gastdozent einige Vorlesungen bei Ihnen ab. Ich werde mir Mühe geben, Ihnen alles Wichtige verständlich zu übermitteln. Bei Bedarf werden die Fragen bitte zum Schluss gestellt. An Ihrer Stelle würde ich mir dann vielleicht einige Randnotizen machen." Er wartete kurz, bis das Rascheln der hervorgeholten Collegeblöcke und Hefte verklungen war, dann sagte er: "Okay, dann wollen wir mal das Beste aus dem hier machen!" Ein leises Lachen kaum von den Studenten in meinem Umfeld. Doch ich sah Lecters ernsten Gesichtsausdruck und wusste sofort: Er hatte damit keinen Witz machen wollen!
Lecter drehte uns allen den Rücken zu und ging zur Tafel. Er schrieb an die Tafel: Stufen der Altersphasen. Doch aus irgendeinem mir nicht bekannten Grund schaltete mein Gehirn plötzlich ab. Ich beugte mich zu Constanze herüber: "Conni, er ist es!" "Ja, das ist Doktor Lecter. Du hast mir von dem erzählt." Constanze schien leicht verwirrt: "Nein, doch... Ja, habe ich. Aber er ist der Fremde, den ich heute morgen unsanft angerempelt habe!" Jetzt riss sie ungläubig die Augen auf und prustete im nächsten Moment gleich los. Ich runzelte die Stirn: "Ich finde das immer noch nicht witzig!" Sie wischte sich eine kleine Träne aus dem Augenwinkel: "Ich kann mich da immer wieder herzlich drüber amüsieren!" Ich bekam mit, dass Dr. Lecter sich umdrehte und Constanze und mich ernst musterte. Ich sah ihn unschuldig und etwas hilflos an, Constanzes Lachen verstummte. Ich hatte überhaupt nicht zugehört, was er erklärt hatte. Als er mich musterte, blitzte etwas in seinen Augen auf. Das sah ich selbst aus knapp zehn Metern Entfernung: Er hatte mich ebenfalls erkannt. Automatisch kauerte ich mich zusammen, in der Hoffnung, dadurch unsichtbarer zu wirken. Er schenkte mir ein kurzes, knappes Lächeln und die Spannung in meinen Muskeln gab etwas nach. Wegen einem Lächeln von ihm? Oder warum war ich nun doch wieder ruhig und gelassen? Ich würde das unter Beobachtung stellen, das stand für mich fest!
Das war eine Angewohnheit, die ich schon in der Schule gepflegt hatte. Wann immer etwas passierte, was mich verwunderte, wartete ich ab, ob es nochmal passierte und prüfte meine zweite Reaktion. Es war immer ziemlich interessant. Selbst danach noch, weil ich dann ja andere Gründe für die jeweiligen Reaktionen suchen musste. Vielleicht war das auch ein Grund dafür gewesen, dass ich mich für die Psychologie interessierte. Ich wusste es nicht.
Ich bemerkte nicht, dass Lecter die Vorlesung beendet hatte. Ein Stoß in die Seite von Constanze holte mich in die Realität zurück: "Hey, Süße, genug geträumt! Die Vorlesung ist zu Ende." "Wie jetzt? Schon?" Verwirrt sah ich nach vorne. Dort stand Lecter immer noch mit Professor Rudolphus in ein Gespräch vertieft. Dieser zog sich dann mit einem knappen Nicken zum Abschied zurück. Bei uns kam er zum Stehen: "Miss Pawlow, würden Sie mir mal freundlicherweise Ihre Freundin ausleihen? Es geht um diesen einen Artikel der Zeitung." Constanze warf mir einen hilflosen Blick zu, doch ich sagte nur: "Geh mit Rudolphus, ich muss noch etwas klären." Dabei warf ich einen vorsichtigen Blick nach vorne. Constanze verstand: "Aber beeile dich! Ich warte im Foyer bei dem Snackautomaten." Ich nickte nur noch und sie verschwand mit Professor Rudolphus. Ich nahm meinen Mut zusammen, packte meine Tasche und ging nach vorne. Lecter empfing mich bereits mit einem Blick, den ich nicht richtigen deuten konnte. Oder wollte. Ein ungewohnt heiß-kalter Schauer lief mir über den Rücken. Lag das an diesem fixierenden Blick? Am liebsten hätte ich Lecter gefragt, doch ich traute mich nicht.
Er sah mich fragend an. Los jetzt! Rede mit ihm, schimpfte ich innerlich mit mir selbst. Ich schluckte: "Dr. Lecter... Ich, also, ähm..." Gott, was war das denn? Es war doch nur eine banale Entschuldigung, die ich da von mir geben sollte! Was war daran jetzt so schwer?
Lecter hob fragend die Augenbrauen. Ich startete einen neuen Versuch: "Irgendwie habe ich... Sie heute morgen... in meine Unachtsamkeit... versehentlich angerempelt." Ein kurzes amüsiertes Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken: "Ach ja, ich erinnere mich. Nun, was geschehen ist geschehen. Vergeben und vergessen!" Er lächelte. Nun voll und ganz. Aus irgendeinem Grund wurde mir unter diesem Lächeln warm und ich lächelte automatisch zurück. Was war bloß los mit mir?
Ich hauchte, weil mir sein Lächeln meine Stimme nahm: "Gut, dann brauche ich mir also keine Gedanken mehr machen?" "Keine Sorge, Miss Pawlow, wegen solcher Lappalien bin ich nicht nachtragend. Wo kämen wir denn da hin? Außerdem hätte ich auch einfach aus dem Weg gehen können. Ergo trage ich eine gewisse Mitschuld daran." Das war jetzt aber ein Witz gewesen, denn er schmunzelte. Ein kurzes, leises Lachen entfloh aus meiner eigentlich zugeschnürten Kehle. Moment! Hatte er gerade meinen Namen gesagt? Hatte er echt "Miss Pawlow" zu mir gesagt? Woher kannte er denn meinen Namen?
Ich wollte gerade fragen, da klemmte er sich die Aktentasche unter den Arm und wollte gerade gehen. Bei der Tür drehte er sich noch einmal zu mir um: "War sonst noch irgendetwas, Miss Pawlow?" Ohne darüber nachzudenken, schüttelte ich den Kopf. Lecter nickte kurz und ging davon. Leicht bestürzt blieb ich allein zurück...

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