Ich hockte mich in eine Ecke hinter einen Tisch und zog die Knie dicht an meinen Körper. Mein Puls raste, mein Herz pochte wie verrückt und mir rauschte das Blut in den Ohren. Erst jetzt wurde mir bewusst, was ich gerade getan hatte. Ich faltete meine Hände über dem Kopf: "Irene, du dumme Nuss!", tadelte ich mich selbst. "Wieso rennst du bloß weg?" Ich seufzte schwer, versuchte, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen. Dabei hörte ich, wie etwas von Außen gegen die Tür wummerte. Es klang wie zwei Fäuste: "Miss Pawlow? Geht es Ihnen gut?" Es war Dr. Lecter! Ich presste die Hände vor das Gesicht, schloss krampfhaft die Augen. Ich wollte nicht, dass er mich so sah! Ich hatte mich schon wieder total daneben benommen!
Ich hörte wieder seine Stimme: "Miss Pawlow? So machen Sie doch bitte die Tür auf." Ich hielt mir die Ohren zu. Ich wollte ihn nicht hören! Ich wollte, dass er ging. Sowohl in der Realität, als auch in meinen Gedanken. Er sollte einfach verschwinden! Ich kannte ihn gerade mal ein paar Stunden. Doch bereits diese kurze Zeit hatte gereicht, um mein Herz an ihn zu verlieren. Dessen war ich mir nun bewusst.
Ich spürte, wie sich meine Augen heiß mit Tränen füllten, die mir danach stetig von den ebenfalls heißen Wangen rannten. Heiß von dem Blut, welches mir ins Gesicht gestiegen war. Ein leises Schluchzen drang aus meiner Kehle, in der sich ein Kloß bildete. Was war nur los mit mir? Was war an ihm so besonders, dass er mich so fesselte? So veränderte?!
Erneut seine Stimme: "Miss Pawlow? Höre ich Sie schluchzen?" Ich musste ein weiteres Schluchzen unterdrücken. Dann hörte ich ein letztes mal, wie er sagte: "Warten Sie!" Nun gab ich nach und brach endgültig in Tränen aus. Ich ließ den vorhin so sorgsam erbauten Damm einfach brechen. Ein paar Stunden. Mehr hatte er nicht gebraucht. Obwohl ich mich schon so viele Jahre gegen solche Gefühle gewehrt hatte - nun war ich machtlos. Ich musste mir eingestehen, dass ich mich dieses Mal nicht davor bewahren konnte.
Ich schluchzte auf. Da merkte ich, dass der Tisch über mir, meine kleine Festung und letzte Zuflucht, weggezogen wurde: "Herrje, Miss Pawlow!" Ich spürte, wie er sich zu mir herunterbeugte: "Shh... Es ist alles gut." Ich weinte ununterbrochen, trauerte um meine Freiheit, meinen Stolz und alles moralische, was mir bis heute heilig gewesen war.
Er setzte sich neben mir. Dann spürte ich, wie er seinen linken Arm um mich legte und meinen zitternden Körper an sich zog. Ich gab mich meinen Gefühlen hin - ich presste mich an seinen athletischen Körper, suchend nach Wärme, Trost und Halt. Ich wusste nicht warum,aber ich war mir sicher, dass ich diese drei Elemente bei Dr. Lecter finden würde! Selbst nach dieser kurzen Zeit und obwohl ich ihn gar nicht richtig kannte, so wusste ich: Er würde für mich da sein. Zumindest für diesen kurzen Moment.
Ich schmiegte mich an ihn, genoss seine unmittelbare Nähe, vor der ich bis eben weggelaufen war, kostete jede Sekunde mit ihm aus. In rhythmischen Zügen fuhr seine Hand gleichmäßig über meinen Rücken, entspannte mich. Mein Schluchzen wurde zu einem leisen Wimmern... Und selbst das erstarb bald darauf.
Ich hörte Dr. Lecters Stimme an meinem Ohr: "Shhh... Miss Pawlow, es tut mir so Leid! Bin ich Schuld daran, dass Sie jetzt so viele Tränen vergießen mussten?" Ich riskierte einen kurzen Blick auf ihn und nickte leicht. Er nahm mich erneut in den Arm, drückte mich noch etwas fester an sich: "Das war keineswegs meine Absicht, das müssen Sie mir glauben!" Ich fand meine Stimme wieder. Ich schniefte und murmelte: "Ich glaube Ihnen, Doktor. Es ist nicht Ihre Schuld - es ist allein meine! Ich war gerade so undankbar zu Ihnen, bin vor Ihnen weggelaufen, obwohl Sie mir bloß helfen wollten. Jetzt war ich schon das zweite Mal taktlos zu Ihnen. Viel eher muss es mir Leid tun!" "Oh nein, nein, Miss Pawlow! Es geht Ihnen heute nicht gut! Da kann so etwas schnell passieren! Vor allem, wenn jemand so aufdringlich zu einem ist wie ich zu Ihnen gerade." Seine Hand wanderte immer noch stetig über meinen Rücken. Und tatsächlich fühlte ich mich geborgen. Doch dann überkam mich die Müdigkeit. Ich nahm seinen Duft in mir auf und seufzte...
"Miss Pawlow? Geht es Ihnen besser?" Ich öffnete langsam die Augen: "Ja. Wieso fragen Sie?" Plötzlich verstand ich, rückte augenblicklich von ihm weg und sprang auf: "Entschuldigen Sie bitte, Doktor! Ich bitte vielmals um Verzeihung!" "Nicht doch!", erwiderte Lecter grinsend und erhob sich langsam: "Sie sind eingeschlafen, Miss Pawlow. Und ich wollte Sie nicht wecken." "Was? Ich bin...?" "Ja, Sie sind eingeschlafen." "Oh mein Gott! Das... Das ist mir so peinlich! Ich..." "Miss Pawlow, ich glaube es ist besser, wenn ich Sie nach Hause bringe. Dort können Sie sich dann ausruhen. Was halten Sie davon?" "Das geht nicht! Constanze..." "Sie wird sicher verstehen, dass Sie sich schonen sollten.", beharrte Lecter. Er war so fürsorglich! Womit hatte ich das verdient? Ich wusste es nicht: "Haben Sie nicht noch wichtige Dinge zu erledigen?" "Ich empfinde es als wichtig, Sie sicher nach Hause zu bringen." Damit stand für mich fest: Er meinte das ernst. Und er würde ein Nein meinerseits nicht akzeptieren.
Ich nickte langsam: "In Ordnung, Dr. Lecter. Ich werde aber erst Constanze Bescheid sagen und meine Sachen holen, falls das in Ordnung ist?" "Selbstverständlich. Ich begleite Sie." So machten wir uns auf den Weg...Montags saßen Constanze und ich normalerweise immer in der Mittagspause auf der kleinen Grasfläche des Innenhofs der Universität. Zumindest wenn es das Wetter zuließ. Also eigentlich auch heute.
Constanze sah sich prüfend um - dann sah sie mich, sprang auf und eilte auf mich zu: "Irene! Süße, wie geht es dir?!" Sie musterte mich, warf einen Blick auf Lecter und fragte: "Was ist denn mit dir passiert?! Deine Augen sind total rot!" Sie zog mich näher an sich und zischte: "Was hat er dir angetan?! Ich schwöre, wenn ich den in die Finger bekomme..." "Constanze, jetzt halt mal kurz die Luft an. Mir geht es gut. Er hat nichts gemacht." Sie seufzte, dann umarmte sie mich: "Sobald er dir etwas antut..." "Miss Pawlow? Wollten Sie Ihrer Freundin nicht etwas mitteilen?" Lecter stand einige Meter von uns entfernt und sah mich an. Mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte. Constanze sah mich verwundert an und ich erklärte: "Dr. Lecter meinte, es wäre besser, wenn ich für heute Schluss mache und nach Hause gehe." "Seit wann lässt du dir etwas sagen? Aber gut, er als Doktor muss es ja wissen! Ruh' dich aus! Soll ich dich nach Hause bringen?" "Das übernehme ich." Lecter stand jetzt direkt hinter mir. Ich wirbelte erschrocken herum. Ich hatte ihn gar nicht kommen hören: "Wo sind Ihre Sachen, Miss Pawlow?" "Einen Moment, die habe ich mitgenommen..." Constanze flitzte zu ihren Sachen und griff nach meiner Tasche. Dann kehrte sie zu uns zurück und reichte die Tasche Lecter. Der nickte nur noch: "Dann jetzt ab nach Hause, Miss Pawlow." "Ich rufe dich nachher mal an, Irene." Ich nickte und ging mit Lecter...Schweigend gingen Dr. Lecter und ich nebeneinander her. Ich überlegte krampfhaft, was ich zu ihm sagen könnte: "Dr. Lecter?" "Ja?" "Ich, ähm... Danke, dass Sie mich nach Hause bringen." "Das ist doch selbstverständlich." "Nein, ist es nicht. So etwas machen Dozenten nicht." "Nicht? Nun, ich lerne auch nie aus. Danke, dass Sie mich darauf hinweisen." "Dachten Sie, das wäre normal?" "Um ehrlich zu sein: Nein. Aber ich empfinde es als höflich." Diese Antwort versetzte mir einen kleinen Stich. Ich musste feststellen, dass ich mir eine etwas anders ausfallende Antwort von ihm gewünscht hatte. Die Stimme meines Verstandes schrie in mir: "Geht's noch?! Glaubst du alles ernstes, er macht das aus Liebe?!? Bist du verrückt?!" Scheinbar schon. Sonst hätte ich mich vermutlich nicht darauf eingelassen oder auf Lecter gehört. Ich hätte jetzt mit Constanze im Innenhof gesessen und mit ihr über das Fernsehprogramm diskutiert, welches meiner Meinung nach immer absurder wurde...
Ich spürte wieder den Blick des Doktors auf mir und sah ihn an: "Ist irgendetwas?" "Ich weiß nicht, wohin wir gehen müssen." "Es ist nicht mehr weit, Doktor." Wir kamen an der Stelle vorbei, wo ich ihn heute morgen angerempelt hatte: "Eigentlich ein schöner Ort, um sich kennenzulernen. Ein Blumenhändler in der Nähe, schönes Wetter...", murmelte Lecter und sah mich grinsend an. Er hatte es immer noch nicht vergessen. Ich spürte, wie mir die Röte in die Wangen stieg: "Miss Pawlow? Hat man Ihnen eigentlich schon einmal Blumen geschenkt? Bestimmt, oder?" "Ehrlich gesagt nicht, Doktor." "Was?! Aber das kann doch nicht sein! Eine solch nette junge Frau wie Sie müsste eigentlich jeden Morgen mehrere Blumensträuße vor ihrer Tür vorfinden!" "Glauben Sie?" "Natürlich!" "Das denken andere Männer scheinbar nicht." "Dann eben die keinen Geschmack! Keinen Sinn für Ästhetik! Sagen Sie mir, was ist Ihre Lieblingsblume?" "Hmm... Ich mag weiße Rosen sehr gerne." "Wieso gerade die?" "Sie sehen so unschuldig aus. Doch wenn man sie packen und abreißen möchte, verteidigt sie sich mit ihren Dornen, verletzt ihre Angreifer." "Ich hätte es nicht besser formulieren können!" Seine Worte füllten mich mit Stolz. Doch dann fragte ich mich plötzlich, warum er das hatte wissen wollen: "Warum wollten Sie das wissen, Doktor?" "Aus reiner Neugier. Wo müssen wir jetzt hin?" "Einfach nur noch über die Straße." "Hier wohnen Sie?" "Ja, genau. Dieses kleine Häuschen hier ist meines." "Das ist ja amüsant! Mein Haus befindet sich bloß ein paar Straßen weiter." Mein Herz tat einen ungewollten Sprung. Er war nicht weit weg von mir, wenn er ging: "Das ist wirklich amüsant!", lachte ich. Er stimmte in mein Lachen mit ein, dann geleitete er mich über die Straße bis zu meiner Haustür: "Nun denn, dann kurieren Sie sich gut aus, Miss Pawlow!" "Ja, Doktor." "Ich hoffe, Sir sehen uns schon sehr bald wieder." "Spätestens bei Ihrer nächsten Vorlesung." "Die ist erst nächsten Montag. Ich habe Donnerstag einen wichtigen Termin." "Vielleicht sehen wir uns ja schon etwas früher?" "Aber nur, wenn Sie sich jetzt auch wirklich auskurieren!" "Keine Sorge, Dr. Lecter." "Sie wirken für mich wie eine Person, die sich nicht gern etwas vorschreiben lässt." "Da haben Sie recht." Ich grinste: "Aber bei Ihnen kann ich eine Ausnahme machen." Er lächelte: "Gut. Dann bis bald." Er drehte sich um. Ich angelte meinen Schlüssel aus der Tasche und wollte gerade aufschließen, da hörte ich ihn nochmal hinter mir: "Miss Pawlow?" Ich wirbelte herum: "Ja, Doktor?" "Schön, Sie kennengelernt zu haben." Ich lächelte ihn an: "Dito." Er grinste, dann ging er. Ich sah ihm kurz hinterher, dann betrat ich mein Haus...
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University Lovestory
FanfictieIrene Pawlow studiert Medizin an einer Universität in Baltimore. Eines Tages trifft sie dort auf Dr. Hannibal Lecter als ihren Gastdozenten - mit fatalen Folgen.