3.

504 18 5
                                        

Ich stand vor der Eingangstür. Als ich Dr. Lecter durch die Scheibe erkannte, sank mein Mut. Musste das wirklich sein? Ich fragte Constanze: "Muss das jetzt wirklich sein?" Constanze nickte und grinste: "Aber natürlich! Ich will das jetzt wissen!" "Kann ich das nicht irgendwann einmal testen? Das war heute genug Peinlichkeit, finde ich. Mehr muss nicht sein!" Ich setzte meinen hilflosen Blick auf. Bei Constanze zog der immer! So auch heute: "Hmm... Sieh mich nicht so an!" "Wieso nicht?" "Weil ich dann immer schwach werde. Na gut, wir verschieben euer Rendezvous." "Es ist kein Rendezvous!", unterbrach ich sie scharf. "Es wird auch nie eines geben!" Plötzlich ging die Tür auf und Lecter stand im Türrahmen: "Ein Rendezvous? Finden Sie diesen Ort dafür geeignet, Miss Pawlow?", fragte er und grinste. Mich überkam ein heftiges Zucken, doch Constanze stieß mir unsanft den Ellenbogen in die Rippen. Ich starrte ihn mit großen Augen an: "Also... i-ich ha-hatte nicht v-vor... also, ähm... hier f-findet ke-kein Rendezvous statt." Gott, das wurde ja immer schlimmer! Jetzt fing ich auch noch an zu stottern! Was kam als nächstes? Würde ich in Ohnmacht fallen? Komischerweise kam mir ein dazu passendes Szenario in den Sinn:
Plötzlich wurde mir schwarz vor Augen. Ich hörte noch eine erschrockene Constanze und bekam grob mit, dass ich nicht hart auf den Boden aufschlug, sondern in kräftigen, jedoch weichen Armen lag. Als ich die Augen öffnete, blickte ich in Lecters Gesicht. Er hielt mich und fragte in besorgtem Ton: "Miss Pawlow? Ist alles in Ordnung mit Ihnen?" Ich wurde stark geschüttelt und kehrte in die Realität zurück...
"Miss Pawlow? Ist Ihnen nicht wohl?" Ich schüttelte den Kopf. Lecter stand immer noch vor mir. Constanze hatte mich geschüttelt: "Ich glaube, wir sollten sie erstmal weg bringen. Was meinen Sie, Dr. Lecter?" Mir war schwindelig. Ich bekam grob mit, dass Lecter Constanze antwortete: "Ich glaube, Sie haben gleich eine Vorlesung. Gehe ich Recht dieser Annahme?" "Schon. Aber... " "Keine Sorge, ich werde mich um Miss Pawlow kümmern. Gehen Sie ruhig in Ihre Vorlesung. Miss Pawlow wird es Ihnen danken, wenn Sie sie auf den neuesten Stand bringen, finden Sie nicht?" Ich hatte das Gefühl, dass sich alles drehte. Dann spürte ich starke, warme Hände, die meine Schultern umfassten und dann nach vorne zogen. Ich hörte noch Constanzes Stimme: "Ist gut, Dr. Lecter. Irene, ich bin in der Pause gleich wieder bei dir! Hörst du?" Ich rang meinem Kopf ein kurzes, knappes Nicken ab. Mein Blick war trüb und leicht verschwommen. Ich wäre am liebsten umgefallen, doch die zwei Hände hielten mich fest. Anhand der, wenn auch etwas unscharfen Konturen konnte ich erkennen, dass es Lecters Hände waren. Sanft ließ ich mich von ihm von der Tür wegführen. Durch meinen leicht verschwommenen Blick konnte ich nicht sonderlich gut sehen. Deswegen war ich in diesem Moment froh, dass Dr. Lecter da war.
Dennoch fühlte ich mich wie eine Last: "Dr. Lecter, la-lassen Sie e-es gut sein... i-ich komm' schon klar." "Nichts da! Das kommt gar nicht infrage! Sie würden nur umfallen und das will ich beileibe nicht! Ich bringe Sie jetzt erstmal kurz ins Arztzimmer und wenn ich Sie dort untersucht habe, entscheide ich, wie es mit Ihnen heute weitergeht." Er würde mich untersuchen? Wollte ich das? Mir war etwas schwindelig, ja. Und mein Blick war plötzlich auch nicht mehr ganz klar, das gab ich zu. Aber musste ich deswegen gleich ins Arztzimmer? Ich fand nicht: "Dr. Lecter. M-Mir ist bloß etwas schwi-schwindelig. Ein bisschen fri-frische Luft wird wohl reichen, oder?" Plötzlich blieb er mit mir stehen: "Das ist eigentlich gar keine schlechte Idee.", schien der Doktor zu überlegen. Ganz langsam klärte sich mein Blick wieder...

"Da wären wir, Miss Pawlow. Wie geht es Ihnen?" "Immerhin kann ich schon wieder sehen." "Gut. Ich öffne Ihnen jetzt die Tür, dann bringe ich Sie raus. In Ordnung?" "Gedenken Sie, bei mir zu bleiben? Das müssen Sie nicht, Doktor." "Aber selbstverständlich! Ich habe Ihrer Freundin... Wie hieß sie nochmal?" "Constanze." "Genau. Ich habe Constanze versprochen, auf Sie aufzupassen, während sie die Vorlesung besucht. Ich weiß nicht, ob Sie diese Konversation in Ihrem Zustand mitbekommen haben?" "Unterschwellig." "Gut. Nur nochmal für das Protokoll: Constanze wird Ihnen hinterher von der Vorlesung berichten. So lange befinden Sie sich jetzt unter meiner Obhut. Verstanden?" Ich sah ihn beschämt an und nickte schließlich. Er lächelte: "Okey-Dokey. Ich öffne jetzt die Tür." Gesagt, getan. Dabei drehte er mir nie komplett den Rücken zu, behielt mich die ganze Zeit im Auge. Er ist ziemlich fürsorglich, musste ich feststellen. Dabei habe ich mich heute morgen doch so unmöglich benommen!
Er dirigierte mich sanft zu einer Holzbank, auf der ich schüchtern Platz nahm. Die Sonne schien auf den Fleck Rasen um uns herum und eine Hummel suchte sich ihren Weg über die Gänseblümchen und sonstigen Blüten. Ich sog die frische Luft ein: Herrlich!
Ich bekam grob mit, dass sich Dr. Lecter neben mich setzte und seufzte: "Diese Morgenstunden im Sommer sind doch einfach herrlich! Nicht wahr, Miss Pawlow?" Ich bedachte ihn mit einem Seitenblick. Er hatte auf jeden Fall recht! Und das musste ich ihm jetzt sagen: "Ja, Doktor. Wirklich wunderbar! Diese vielen, bunten Farben und die perfekte Temperatur, so dass es sich sehr gut hier draußen aushalten lässt. Manchmal sitze ich in der Pause hier und frage mich, ob in diesen Momenten die Zeit still stehen bleibt." "Sagen Sie mir, Miss Pawlow: Haben Sie einen Hang zur Poesie?" "Wieso fragen Sie mich so etwas, Doktor?" "Es war nur so ein Gedanke. Die Art, wie Sie mir gerade geantwortet haben." Ich verstand nicht recht. Aber scheinbar war es für ihn auch nicht weiter von Belange, denn er hatte seinen Blick in die Ferne gerichtet, presste sich den Zeigefinger an die Lippen und schien abwesend. Damit eröffnete sich für mich die Möglichkeit, ihn etwas genauer zu betrachten.
Lecters Haare waren braun und bekamen am Ansatz leichte Spuren von Silber. Er hatte sie streng zurück gekämmt. Ich fand, das stand ihm ziemlich gut!
Seine Haut war bleich. Wahrscheinlich verbrachte er nicht viel Zeit in der direkten Sonne, sondern hielt sich eher im Schatten auf - so wie ich. Sein Körper war athletisch. Gut genährt und kräftig mit sehnigen Muskeln. Er erinnerte mich an diesen einen Helden aus meinem letzten Buch. Aber leider wusste ich nicht mehr, wie dieser hieß. Das liegt bestimmt am Doktor, flüsterte zum ersten Mal eine Stimme in mir, von der ich bis eben noch nicht einmal gewusst hatte, dass es diese gibt. Ich schüttelte den Kopf. Meine Gedanken wirbelten durcheinander, als wären sie alle vor der Flucht. Viele von ihnen versuchte ich, zu verdrängen, weil sie einfach so unmoralisch waren. auch empfand es nicht als richtig, solche Gedanken zu haben. Er war zum einen Dozent und zum anderen bestimmt doppelt so alt wie ich. Nichts desto trotz malte ich mir in meinen Gedanken aus, wie es wäre, eine Beziehung mit ihm einzugehen. Würde ich dann jemals wieder einen klaren Gedanken fassen können? Oder aufhören zu stottern? Ich wusste es nicht. Ich wusste auch nicht, dass ein Mann solche Gefühle in mir auslösen konnte. Zu mindestens bis heute morgen nicht...
Ich spürte den intensiven Blick des Doktors auf mir und wendete mich ihm automatisch zu: "Ist irgendetwas, Dr. Lecter?" "Nein. Ich vergewissere mich nur, dass es Ihnen immer noch gut geht." "Alles okay, Doktor." Er musterte mich. Plötzlich fragte er: "Sagen Sie, Miss Pawlow: Haben Sie heute schon etwas nahrhaftes zu sich genommen?" "Naja, vorhin einen Snickers... Wieso?" "Ich glaube, ich weiß, warum Ihnen plötzlich schwindelig geworden ist." "Ach ja?" "Sie haben kaum etwas gegessen. Davon kann einem schwindelig werden." "Das habe ich noch gar nicht bedacht." "Hmm... Haben Sie etwas zu Essen hier?" "Um ehrlich zu sein: Nein." Er sah mich streng an: "Tstststststs... Kein Wunder, dass Sie mir gleich umfallen! Ich gehe Ihnen etwas holen! Reagieren Sie auf bestimmte Dinge allergisch?" "Eigentlich nicht." "Okey-Dokey. Ich gehe eben in die Cafeteria. Sie bleiben hier sitzen und rühren sich nicht vom Fleck, haben Sie verstanden?!" "Ja, Sir." "Gut." Ich sah, wie er sich erhob und mich noch einmal musterte. Ich sah leicht lächelnd zurück. Er nickte und ging schnellen Schrittes ins Gebäude zurück. Endlich konnte sich mein Puls etwas beruhigen! Ich seufzte und starrte in den Himmel. Schon immer hatte mir dieses helioblau sehr gefallen. Doch Dr. Lecters Augen gefielen mir dann doch noch etwas besser, musste ich bestürzt feststellen. Ich muss stark bleiben, redete ich mir in Gedanken zu. Ich darf nicht schwach werden! ...
Ich hatte nicht mitbekommen, dass der Doktor plötzlich wieder hinter mir stand: "Miss Pawlow? Ich bin wieder da. Mir scheint, Sie haben sich wirklich nicht vom Fleck gerührt." "Wie Sie befohlen haben, Doktor." "So ist es brav.", lobte er und setzte mich erneut neben mich. Verdammt, dachte ich und runzelte die Stirn. Mein Puls hatte sich gerade beruhigt!
Dr. Lecter hielt mir ein belegtes Brötchen hin: "Hier, Miss Pawlow. Das können Sie jetzt gut gebrauchen!" Mit zitternder Hand nahm ich es zögernd, hauchte ein Danke und schob es mir langsam zum Mund. Dabei spürte ich Lecters Blick die ganze Zeit auf mir. Ich biss ein Stück ab, kaute und erwiderte seinen Blick. Er lächelte und nickte. Dann holte er ein zweites Brötchen hervor: "Sie glauben ja gar nicht, was für einen Hunger ich habe! Ich wusste nicht, dass Dozent sein so hungrig macht." "Da können Sie mal sehen!", sagte ich grinsend, als ich aufgekaut hatte. Er grinste ebenfalls.
Während wir unsere Brötchen aßen, verging die Zeit wie im Flug. Für eine ganze Weile schwiegen wir, ließen uns von dem sanften Wind das Gesicht umschmeicheln. Meine Haare wehten etwas zurück. Ich genoss es und schloss die Augen...
Ohne darüber nachzudenken trat Dr. Lecter vor meinem inneren Auge auf. Er lächelte mich an und hob die Hand. Dann schritt er langsam und anmutig auf mich zu. Ich wollte zurückweichen, doch irgendetwas ließ mich erstarren. Ich konnte mich nicht rühren. Er blieb direkt vor mir stehen und seufzte leise. Ich neigte den Kopf etwas nach rechts, als er seine Hand an meine Wange legte. Er lächelte dabei ununterbrochen. Ganz langsam schob er sein Gesicht näher an meines, machte zur Hilfe noch einen kleinen Schritt. Mein Atem ging schneller und flacher. Ich wusste, was jetzt kam. Aber glauben konnte ich es nicht. Das war einfach unmöglich! So lange hatte ich mein Herz schützen können! Und jetzt traf ich einen Mann, meinen Dozenten wohlgemerkt, und plötzlich änderte sich alles? Das konnte nicht sein! Es DURFTE einfach nicht sein!
Bevor er irgendetwas machen konnte, schaffte ich es, mich zu bewegen und trat schnell zurück. Ich rief, ja schrie fast panisch auf: "STOPP!" ...
Ich riss die Augen auf und und sprang hoch. Lecter starrte mich erschrocken an und obwohl ich mir nicht sicher war, ob meine Beine mich tragen konnten ohne einzuknicken, floh ich in die Universität...

Ich keuchte und sah mich panisch um. Das Foyer war ungewöhnlich leer. Kein Wunder, meldete sich mein Verstand, von dem ich bis eben gedacht hatte, er wäre komplett verschwunden. Die Leute sind alle bei ihren Vorlesungen oder sonst wo. Was gab es hier schon spannendes? Einen Snackautomaten - Wahnsinnig fesselnd, wie ich fand. Ich hörte die Tür aufgehen und hechtete den rechten Flur entlang, die Treppe hinauf und dann in den Westflügel. Es wunderte mich, dass sich die Laboratorien hier befanden. Aber diese Universität war allgemein ziemlich ungewöhnlich. Das hatte ich bereits heute morgen festgestellt, als ich meinen Gastdozenten Dr. Lecter traf. Ich hörte seine Rufe hinter mir: "Miss Pawlow? Was haben Sie denn auf einmal? Bleiben Sie doch einmal stehen! So warten Sie doch, bitte!" Mit einem Mal donnerte seine Stimme: "JETZT BLEIBEN SIE VERDAMMT NOCHMAL ENDLICH STEHEN!!" Aber ich rannte weiter, fand einen Raum, dessen Tür aufstand und der leer war. Von außen war der Türgriff ein Knauf, ließ sich also ohne Schlüssel nicht öffnen. Perfekt! Ich schlüpfte hinein und knallte mit viel zu viel Schwung die Tür zu. Beinahe wäre sie aus den Angeln geflogen, dachte ich. Aber das wäre eher unwahrscheinlich, da sie ziemlich dick und somit stabil war. Nun konnte ich erstmal aufatmen - und darüber nachdenken, was ich gerade für einen riesigen Fehler gemacht hatte...

University LovestoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt