22.

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So fanden wir uns in der meiner Meinung nach riesigen Küche ein. Hannibal tigerte zur Kochinsel und deutete dabei zu dem ebenfalls sehr großen Esstisch: "Nimm Platz, Liebes." "Kann ich dir bei irgendetwas behilflich sein?", fragte ich. Ich empfand es als unhöflich, als Gast anderen bei der Arbeit zuzusehen. Doch Hannibal verneinte: "Lehn dich einfach mal zurück, Irene. Du scheinst sehr viel selbst zu machen. Schließlich lebst du allein." Er richtete seinen Blick auf mich. Ich zuckte mit den Schultern: "Ich mache nicht mehr als du. Im Gegenteil. Eigentlich solltest du dich mal zurücklehnen!" "Oh Irene, glaube mir, ich lehne mich oft genug mal zurück und entspanne. Aber sage mir - wie entspannst du?" Ich antwortete: "Auf jeden Fall anders als andere in meinem Alter! Während andere sich betrinken oder auch sonst mehr draußen sind, bleibe ich am Wochenende lieber daheim und lese Bücher." Hannibal richtete seinen Blick auf irgendwelche Gewürze vor sich, nahm sich ein Beil und fragte: "Mhm... Was für Bücher, Irene?" "Unterschiedlich. Hauptsächlich Romane." "Wovon handelte dein letztes Buch?" "Ähm... von einer jungen Frau die sich bedingungslos in einen Mann verliebte, der sich hinterher als ein geisteskranker Serienmörder entpuppte." Ich sah, wie Hannibals Griff um das Beil sich für einen kurzen Moment sehr festigte. Seine Knöchel stachen weiß hervor, dann entspannte er sich wieder: "Geisteskrank? Kannst du das erläutern?" Ich überlegte: "Nun ja... Er hat seine Opfer... aufgegessen. Wie der Chesapeake Ripper es vermutlich macht." Hannibal runzelte die Stirn: "Ein Kannibale?" Ich nickte und er brummte: "Wie kommt diese Frau nur dazu, sich in ihn zu verlieben?" Wieder zuckte ich mit den Schultern: "Ich denke, sie hat sich in seine Maske verliebt. Er verstellte sich, um nicht aufzufallen - seine falsche Art imponierte ihr. Sein wahres Gesicht bekam sie erst zu sehen, als es schon zu spät war." Hannibal nickte langsam: "Wie ging das Buch zuende?" Ich lachte: "Das werde ich dir nicht verraten! Ich gebe es dir mal, dann kannst du es selbst herausfinden." Nun schmunzelte auch er. Gerade schien er sehr angespannt. Warum? Widerte ihn der Gedanke an Kannibalismus so sehr an? Oder war es etwas anderes? Ich wusste es nicht, wollte aber auch nich weiter nachfragen. Stattdessen sagte ich: "Ich verrate dir nur - er landet in einer Zelle in der geschlossenen Abteilung. Ein forensisches Hospital." "Ich kann es kaum erwarten, das Buch zu lesen." Ich stand auf und ging zu ihm: "Sag mal, was kochst du denn da?"
"Saiblings-Carpaccio mit Portulaksalat und als Hauptgang Kalbs-Medaillons mit Sauce Béarnaise." "Erwartest du noch jemanden?" "Nein, Irene. Aber ich dachte, ein Dinner würde dir vielleicht gefallen." Ich starrte ihn an. Ein Dinner?! Ich hatte noch nie mit einem Mann zu Abend gegessen! Wieder eine Premiere. Ich verstieß gegen sämtliche meiner mit Mühe ausgearbeiteter Regeln. Ich hatte diese Regeln schon sehr früh ausgearbeitet und mich da immer dran gehalten. Doch nun - bei Hannibal - änderte sich alles! Und es fühlte sich gut an! Es fühlte sich verdammt nochmal gut an! Dann konnte das doch nicht falsch sein, oder?
Ich umfasste Hannibal von hinten und drückte meine Nase sanft in seinen Rücken, suchte Wärme und Halt. Er drehte sich fragend zu mir um: "Irene, ist alles in Ordnung, Liebes?" "Ich weiß nicht, ich... Hannibal, das hier ist alles so neu für mich! Und du bist so... so..." "So... was? Wie bin ich, Irene?" Ich seufzte. Ich wusste nicht die richtigen Worte für das, was er war: "So... einfühlsam und einnehmend zugleich. Ich sehe dich an und bin plötzlich total unsicher. Und dann stellst du eine Frage oder mehrere und ich weiß nicht... Hannibal, was stimmt nicht mit mir?" Er nahm mich in den Arm und umfasste mit der rechten Hand mein Kinn. Er hob es an und flüsterte: "Mit dir stimmt alles. Manchmal frage ich mich, was mit den anderen Leuten in deinem Alter nicht stimmt. Zum Beispiel mit diesem Steven McLaren. Ich frage mich, für was oder für wen er sich wohl halten mag." "Wenigstens verhält er sich normal." Hannibals Griff wurde etwas fester: "Sag so etwas nie wieder! Du bist einzigartig, das ist richtig. Aber was ist wohl besser? Einzigartig sein oder wie ein toter Fisch mit dem Strom treiben und irgendwann darin untergehen, ohne dass sich auch nur irgendjemand an dich erinnert?" "Wie meinst du denn das jetzt, Hannibal?" Er sprach wohl gerne in Rätseln: "Kennst du nicht das Sprichwort "Nur tote Fische schwimmen mit den Strom"? Das soll heißen, dass man sich nicht unbedingt der Masse anpassen muss. Also, Irene, meine Bitte an dich: Bleibe du selbst." Auf einmal war ich den Tränen nahe. Hannibal lächelte mich an und beugte sich zu mir herab. Seine Nasenspitze berührte meine und ich hauchte: "Hannibal... was machst du mit mir?" Er grinste: "Das weiß ich nicht." Wow. Tatsächlich mal eine Sache, die er nicht wusste. Dieser Tag war wirklich voller Wunder.
Er löste sich von mir: "Würdest du bitte Platz nehmen, dann kann ich schon einmal den ersten Gang servieren." Eigentlich wollte ich ihn gar nicht mehr loslassen, doch ich nickte und ging zurück zum Tisch. Kurze Zeit später stellte er mir auch schon einen Teller und eine kleine Schüssel vor die Nase: "Also nochmal - Saiblings-Carpaccio mit...?" "... Mit Portulaksalat.", antwortete Hannibal und öffnete eine Flasche Weißwein: "Und was ist das?", fragte ich und deutete auf die Flasche. Hannibal schenkte ein: "Chardonnay. Man sagt, Weißwein und Fisch harmonieren besser als so mancher Rotwein und Fisch. Das hängt mit dem Tanningehalt des Rotweins und dem Eiweißanteil im Fisch zusammen. So kann man zum Beispiel diesen Saibling hier nicht mit einem Cabernet Sauvignon kombinieren, das würde sehr merkwürdig schmecken. Einige Rotweine kann man durchaus verwenden, man muss halt nur auf den Tanningehalt achten. Er muss niedrig bleiben. Allerdings wollte ich kein Risiko eingehen. Ich weiß ja schließlich nicht einmal, welchen Wein du bevorzugst. Außerdem möchte ich deine Geschmacksknospen nicht reizen." Ich sah ihn mit großen Augen an: "Du weißt so viel, Hannibal..." Er zuckte mit den Schultern: "Aber noch immer nicht alles. Ich denke, ich könnte sogar von dir noch was lernen." Er zwinkerte mir zu und richtete nun auch für sich an. Er zündete noch die Kerze an, schenkte auch sich Wein ein und setzte sich: "Bon Appetit, ma Chérie." Ich fing an zu lachen: "Also Hannibal, französisch steht dir irgendwie nicht." "Nicht?" "Nein. Ich finde, das passt nicht zu dir." Er nickte langsam: "Dann so: Skanau, mano Vaikaş." Ich hielt inne. Litauisch? Hatte er gerade wirklich litauisch geredet? Doch ich wollte ihm imponieren und antwortete, ebenfalls auf litauisch: "Dėkui!" Nun war er es, der innehielt und mich musterte: "Du sprichst litauisch?" "Nicht viel. Meine Großeltern haben dort vor einiger Zeit mal Urlaub gemacht und ich habe so einige Bruchstücke davon aufgeschnappt. Aber wie kommt es, dass du litauisch sprichst? Warst du dort auch mal im Urlaub?" Er lachte: "Nein, ich habe dort gelebt, als ich... als ich noch ein kleiner Junge war." Der Griff um seine Gabel festigte sich, er starrte ins Leere. Sein Lachen war verschwunden. Er schien irgendein Bild vor Augen zu haben. Er schüttelte kurz den Kopf und lächelte wieder: "Wie schmeckt es dir denn überhaupt?" Ich nickte eifrig: "Wirklich ausgezeichnet, Hannibal! Ich denke, ich habe noch nie so guten Fisch probieren dürfen! Und du hattest recht..." Ich nahm einen Schluck Wein. "Der Chardonnay passt wirklich herrlich dazu." Er grinste: "Das freut mich." Mir ging nicht aus dem Kopf, warum er gerade kurz so abwesend war. Ich musste einfach nachfragen: "Hannibal... als du gerade über Litauen gesprochen hast, da... warst du kurz abwesend. Du sahst nicht sehr glücklich aus. Ist damals etwas passiert in Litauen?" Er musterte mich einen Moment. Schließlich senkte er die Stimme: "Irene, du darfst mich alles fragen. Aber ich habe eine Bitte an dich: Frage mich das bitte nie, nie wieder, in Ordnung? Es ist Vergangenheit und ich kann darüber nicht sprechen. Es war einfach zu schlimm, was da passiert ist." Er sprach, als würde er am liebsten weinen. Ich nahm seine Hand, die neben mir auf dem Tisch lag: "Verzeihung. Ich wollte dich nicht... verletzen." Er lächelte milde: "Hast du nicht. Du kannst das ja nicht wissen. Aber jetzt würde ich gerne das Thema wechseln..." Ich aß schnell meinen Fisch auf und Hannibal räumte ab. Er kam mit zwei gefüllten Tellern wieder: "Kalbs-Medaillons mit Sauce Béarnaise als Hauptgang.", erklärte er. Mit einem Lächeln betrachtete ich den Teller: "Also, ich muss schon sagen, Hannibal - Dein Sinn für Ästhetik spiegelt sich wirklich überall wieder." Er tigerte mit einer Serviette zum Tisch zurück, die er fein säuberlich bei sich platzierte: "Ist das für dich gut oder schlecht?" "Gut natürlich!", antwortete ich. "Ich kann immer wieder nur staunen." Er lächelte: "Ich muss gestehen, dass mir deine Wohnung auch gefallen hat. Nur der Inhalt deines Kühlschranks bereitete mir ein wenig Sorgen." Ich wendete den Blick ab, doch er beharrte: "Irene, du musst mehr essen!" Ich nickte und seufzte spielerisch: "Ja, Papa." Nun musste auch er schmunzeln: "Das sage ich dir nicht als Vater sondern als Doktor." "Tatsächlich? Anweisungen des Doktors, hm? Und was machst du, wenn ich nicht gehorche? Werden Sie dann böse, Doktor?", fragte ich mit zuckersüßer Stimme. Er wendete kurz den Blick ab: "Am Ende kann ich sowieso nichts daran ändern. Entweder du hörst oder du tust es halt nicht. Aber du hast recht - ich werde dann böse." Für einen kurzen Moment dachte ich an eine dramatische Flucht mit Geschrei wie in diesen Filmen. Aber ich entschied mich dagegen. Das wäre zum einen total übertrieben und kindisch gewesen und zum anderen einfach nur unhöflich - und Hannibal verabscheute Unhöflichkeit. Das wusste ich. Und ich wollte ihn nicht unnötig verärgern. Daher widmete ich mich dem Kalb auf meinem Teller. Hannibal verstand es wirklich, mit Fleisch umzugehen! Ich denke, ich hätte ihm Fleisch jeder Art geben können und er hätte etwas vorzügliches daraus gemacht. Damals wusste ich noch nicht, wozu er fähig war. Das fand ich erst später heraus. Sehr viel später...

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