Gerade hatte ich die Tür hinter mir geschlossen, da würde ich auch schon von vielen verschiedenen Gerüchen begrüßt. Ich atmete tief ein: Ein Gemisch aus Kaffee, Blumen und etwas unbekanntem würzigen umschmeichelte meine Nase. Der Eingangsbereich war schlicht gehalten - das gefiel mir! Ich mochte es nicht, gleich hinter der Tür bereits von Prunkvollem erschlagen zu werden. Viel eher mochte ich diese Steigerung von Zimmer zu Zimmer - und das schien hier der Fall zu sein.
Ich folgte dem Doktor, der in einem Raum mit hoher Decke stehen blieb. Viele Bücher füllten die ebenfalls hohen Regale. Einige Meter von uns entfernt stand ein großer Schreibtisch zwischen zwei Regalen. Dieser war voll von irgendwelchen Papierstapeln und Aktenordnern. Der Doktor sah mich an: "Entschuldigen Sie bitte die Unordnung, Miss Pawlow, aber ich habe ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass ich heute Besuch bekomme." "Sie müssen sich doch nicht entschuldigen, Doktor. Es ist Ihr Zuhause und ich habe es zu respektieren." "Es sieht hier nicht immer so aus." "Das glaube ich Ihnen sofort! Sie wirken keineswegs unordentlich und unorganisiert. Zumindest nicht auf mich. Und wer Sie allen ernstes so sieht, der ist entweder blind oder einfach nur kognitiv eingeschränkt." "Eine schöne Beschreibung." Er grinste. Ich wunderte mich, dass ich überhaupt solche flüssigen Sätze von mir geben konnte. Dr. Lecter wechselte das Thema: "Also, das hier ist mein Wohn- und Arbeitszimmer." Er reichte mir die Hand: "Ich würde Ihnen gerne noch den Rest des Hauses zeigen. Wenn Sie mir bitte folgen würden?" Zaghaft legte ich meine Hand in seine und er führte mich in die nächsten Zimmer. Es folgten eine riesige Küche und ein ziemlich teuer aussehendes Badezimmer aus Marmor. Ich konnte nur staunen. Langsam wurde mir klar, das hier war nicht nur ein Haus - das war eine Villa!
Dr. Lecter drehte sich zu mir um: "Wie gefällt es Ihnen in meinem bescheidenen Heim?" "Bescheiden?!" "Okay, erwischt. Trotzdem würde mich Ihre Meinung hierzu interessieren." "Es ist groß." Er zog eine Augenbraue hoch: "Es ist groß? Das ist Ihre Meinung?" "Nicht ganz, aber mir fehlen gerade etwas die Worte." Er schmunzelte: "Mir scheint, Ihnen fehlen häufiger die Worte, Miss Pawlow." Ich bemerkte, dass mein Hals ziemlich trocken war. Deshalb räusperte ich mich kurz: "Oh, Miss Pawlow, verzeihen Sie bitte! Wo bleiben nur meine Manieren?! Möchten Sie vielleicht etwas trinken?" "Ein Glas Wasser wäre nicht schlecht." Er führte mich zurück in die Küche und füllte ein großes Glas mit Wasser. Er reichte es mir und ich trank es in wenigen Zügen aus. Dabei spürte ich die ganze Zeit seinen Blick auf mir brennen. Ich stellte das leere Glas ab: "Vielen Dank, Doktor." "Nichts zu danken." Er sah kurz auf die Uhr: "Wir haben noch viel Zeit. Möchten Sie noch etwas spezielles unternehmen?" Etwas spezielles unternehmen?! Ich musste fragen: "Mit Ihnen?" "Sie können auch gerne allein etwas machen..." "Nein!" Zu spät fiel mir auf, dass das jetzt viel zu schnell und laut war. Der Doktor sah mich fragend an. Ich wendete den Blick ab und senkte die Stimme: "Was schlagen Sie denn vor, Doktor?" Er überlegte kurz: "Nun, Lernen wollten wir ja erst am Samstag. Ich schlage vor, ich zeige Ihnen noch mein Musikzimmer." Ein Musikzimmer?!? Was kam als nächstes?!
Ich nickte und er führte mich zur Treppe im Eingangsbereich und dann hinauf in einen weiteren Flur. Er war recht lang und an den Seiten waren viele Türen. Am liebsten hätte ich mir jedes Zimmer angesehen - jedoch respektierte ich die Privatsphäre des Doktors. Er führte mich bis zum Ende des Ganges und dann in die linke Tür. Was dann kam, ließ mich staunen.
Die Wände waren geziert von wunderschönen Malereien. Landschaften, Stillleben - es war alles dabei. An der Wand mir gegenüber stand eine cremeweiße Couch mit einem kleinen Beistelltisch, auch hier wieder einige Bücherregale, bloß diesmal rein mit Büchern über Musik. Gesammelte Werke von allen möglichen Komponisten. Chopin, Beethoven, Fauré, Mozart, Tschaikowsky - All die guten Klassiker, die auch ich gerne hörte.
Das schönste befand sich allerdings in der Mitte des Raumes. Ein schöner Flügel schmückte das Zimmer mit seinem weiß, glänzte durch das Tageslicht im Fenster, spiegelte es teilweise sogar wider. Ich neigte leicht den Kopf. Dieses Zimmer war einfach total schön! Eine richtige Augenweide!
Voller Ehrfurcht trat ich ein und ließ meinen Blick staunend über die Bücher wandern. Doch das beim Flügel nahm dann meine komplette Konzentration in Anspruch. Es war kein geringerer Komponist als Johann Sebastian Bach, der den Notenständer einnahm. Faszinierend, dachte ich. Der Doktor spielt Klavier. Der stand plötzlich hinter mir: "Und? Gefällt es Ihnen hier?" Ich drehte mich zu ihm um und lächelte: "Es gefällt mir sehr gut! Sie scheinen Klassik richtig zu mögen." "Mhm, die Klassik ist eine meiner geheimen Leidenschaften, was die Musik angeht." "Wie ich sehe, versuchen Sie sich gerade an Bach, habe ich recht? Oder steht dieses Buch nur zur Zierde da?" Ich deutete auf das besagte blaue Buch beim Flügel. Er grinste: "Nein, Sie haben recht, Miss Pawlow. Ich spiele momentan viel die Goldberg'schen Variationen. Sind die Ihnen geläufig?" "Ich glaube schon, ja." "Würden Sie bitte auf der Couch Platz nehmen? Dann könnte ich Ihnen eine kleine Kostprobe geben." Ich nickte und setzte mich. Er nahm am Flügel Platz und schlug das Buch auf. Er hatte noch nicht einmal zu spielen begonnen und mich dennoch schon so sehr in seiner Gewalt, dass ich bereits jetzt keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Wie würde es dann sein, wenn er erst einmal zu spielen begonnen hatte? Ich wusste es nicht. Er warf mir ein letztes Lächeln zu, dann richtete er seinen Blick konzentriert auf das Buch und setzte an. Ich stützte meinen Kopf auf dem rechten Arm, schlüpfte lautlos aus meinen Sandalen und zog die Beine so gut es ging an meinen Körper. Ich ließ mich sinken, ließ mich von den zarten Klängen des Klaviers fortreißen in eine Welt, wo nur noch der Doktor und ich existierten. Mein trüber Blick haftete nur noch an ihm, abwechselnd an seinem Gesicht und dann wieder an seinen Händen. Ein leiser Seufzer fand seinen Weg über meine Lippen. Der Doktor schloss die Augen, spielte blind weiter. Er atmete tief ein, schien mit der Musik eins zu werden. Sie schien auch ihn fortzureißen, doch ich wusste nicht, ob in dieser mir unbekannten Welt auch ein Platz für mich war. So wie in meiner der Platz für ihn. Ich wagte allerdings auch nicht, zu fragen, da das, wie ich fand, sehr komisch herüberkommen würde, das wusste ich. Doch es würde mich dennoch freuen, da war ich mir sicher.
Der Doktor öffnete die Augen wieder und drehte seinen Kopf zu mir. Lange sah er mir in die Augen, die Musik bildete einen warmen Kontrast dazu. Einfach hinreißend, wie ich fand. Hinreißend und auf der anderen Seite total befreiend. Was für ein Zwiespalt!
Dr. Lecter wiederholte die letzte Passage und beendete die Arie. Er sah mich fragend an, während der letzte Ton noch lange erklang. Ich setzte mich aufrecht und sah ihn ehrfürchtig an: "Doktor, das war wundervoll!" "Wirklich?" "Ja. Ich war total gefesselt und mitgerissen!" Er grinste: "Das habe ich Ihnen angesehen, Miss Pawlow." "Wirklich?" "Ja." Mir stieg die Röte ins Gesicht: "Es war total schön." "Das freut mich." Er sah kurz auf seine Armbanduhr: "Sagen Sie mir, Miss Pawlow, spielen Sie auch Klavier?" "Ich wünschte, es wäre so. Leider habe ich kein Händchen dafür." "Ich glaube schon. Sie scheinen mir einen bemerkenswerten Sinn für Ästhetik zu haben. Was ist? Wollen wir einen Versuch wagen?" Ich starrte ihn an: "Sie wollen mir das Klavierspielen beibringen?" "Warum denn nicht? Kommen Sie, setzen Sie sich zu mir." Ich tat sofort wie mir geheißen. Er rutschte ein Stück zur Seite und ich nahm zögernd neben ihm Platz: "Nun denn, wollen wir doch mal sehen, ob Sie nicht vielleicht doch ein Händchen hierfür haben." Er legte seine Hand auf die weißen Tasten: "Passen Sie gut auf." Er spielte eine Reihe von Tönen: "Jetzt Sie. Tun Sie es mir nach und spielen dieselbe Abfolge wie ich." Zögernd legte ich meine Hand auf die Tasten und begann zitternd, eine nach der anderen zu drücken. Es klang ein wenig abgehackt: "Spielen Sie es nochmal, Miss Pawlow." Erneut sammelte ich meine Konzentration und spielte. Es klang schon ein wenig besser: "Gut.", lobte der Doktor. Mein Herz pochte. Er spielte eine kleine Melodie: "Nun sind Sie dran." Ich wiederholte die Melodie: "Sie werden immer besser, Miss Pawlow. Versuchen Sie diese Melodie jetzt mit zwei Händen in zwei Oktaven zu spielen." Ich sah ihn leicht verwirrt an, da nahm er meine andere, bisher untätig gebliebene Hand und legte sie auf die richtige Stelle: "Das, was Sie gerade mit der linken Hand gespielt haben, dass spielen Sie jetzt gleichzeitig auch mit der rechten Hand. In etwa so..." Er demonstrierte es mir und ich begann aufgeregt zu zittern. Ich wusste, ich würde es vermasseln. Ich vermasselte es immer! Dr. Lecter betrachtete mich mit einem aufmunternden Lächeln: "Kommen Sie, Miss Pawlow, spielen Sie." Zögernd drückte ich die Tasten, wenn auch nicht immer komplett synchron. Aber immerhin schaffte ich es! Stolz betrachtete ich meine wandernden Hände: "Ich wusste es! Sie haben wohl ein Händchen für das Klavier. Genau genommen sogar zwei." Der Doktor lachte, ich stimmte mit ein. Sein Blick fiel wieder auf seine Armbanduhr: "Oh, ich glaube, wir sollten für heute Schluss machen. Ich möchte nicht, dass Sie wegen mir noch zu spät zur nächsten Vorlesung kommen. Wir könnten ja vielleicht Samstag noch etwas üben - falls Sie überhaupt möchten?" Ich sah ihn an und antwortete komplett ehrlich: "Das wäre sehr schön, Dr. Lecter." Er lächelte, ich erwiderte es. Dann stand er auf und ich erhob mich ebenfalls: "Soll ich Sie wieder zurück zur Universität bringen, Miss Pawlow?" "Nein, nein, Doktor. Sie haben bestimmt noch etwas wichtiges zu erledigen! Ich finde den Weg bestimmt alleine zurück." "Kein Zweifel." Er brachte mich dennoch zur Tür: "Also gut, Miss Pawlow. Das war eine wirklich schöne Mittagspause." "Das finde ich auch, Dr. Lecter." Er grinste: "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag und hoffe, wir sehen uns am Samstag?" "Ganz bestimmt, Doktor. Ich wünsche Ihnen auch noch einen schönen Tag." Er reichte mir seine starke Hand, die ich mit Freuden ergriff. Er schüttelte sie kurz, dann ließ ich los. Ich drehte mich um: "Dann bis Samstag, Doktor." "Bis Samstag, Miss Pawlow." Und langsam ging ich los. Jeder Schritt wurde zwar schwerer für mich, da ich nun ungern von ihm weg wollte, doch ich riss mich zusammen. Ich durfte es ihm nicht zeigen, noch nicht. Aber Constanze. Constanze würde ich es zeigen, wenn ich wieder bei ihr war, das wusste ich.
Noch lange spürte ich den brennenden Blick des Doktors in meinem Rücken und erst sehr spät, als ich schon einige Schritte gemacht hatte, hörte ich, wie die schwere Tür ins Schloss fiel...
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University Lovestory
FanfictionIrene Pawlow studiert Medizin an einer Universität in Baltimore. Eines Tages trifft sie dort auf Dr. Hannibal Lecter als ihren Gastdozenten - mit fatalen Folgen.