6.

394 16 1
                                    

"Irene?" "Hi, Conni." Constanze kreischte auf: "HEY! WIE GEHT'S DIR DENN?!" Ich verdrehte die Augen. Langsam meldete sich wieder das Pochen der Kopfschmerzen zurück: "Constanze, bitte! Ich habe bis eben geschlafen." "... Was? Aber du schläfst doch nachmittags nie!" "Ach. Das weiß ich selbst." "Da hat er dir wohl mächtig den Kopf verdreht..." "Wer?" Constanze stöhnte auf: "Dein Dr. Hannibal Lecter. Wer sonst?" "Er ist nicht MEIN Dr. Hannibal Lecter!! Aber das schlimme an der Sache ist: Er hat gerade einmal ein paar Stunden dafür gebraucht, etwas zum Fallen zu bringen, was ich mir mit den Jahren mühselig aufgebaut habe." "Ich weiß, Süße." "Und er ist mindestens doppelt so alt wie ich!" "Irene, mach dir keine Sorgen. Ich habe eine Idee..." "Nein, warte. Erst muss ich dir was erzählen: Ich habe gerade von ihm geträumt!" "Echt?! Was denn? Ich möchte Details!" Schnell schilderte ich ihr meinen Traum: "Oh, das ist total niedlich!", rief sie. Ich schloss die Augen. Als ich Lecter wieder dicht vor mir stehen sah, musste ich lächeln. Ein leises Seufzen ging mir über die Lippen. Doch nicht leise genug. Constanze hörte es sofort: "Mhm... Irene, das habe ich gehört!" Ich spürte, dass mir die Röte in die Wangen stieg: "Entschuldige." "Irene Pawlow! DU musst dich für GAR NICHTS entschuldigen! Das ist völlig normal! Du bist verliebt!" "Bist du sicher, dass es nicht bloß Schwärmerei ist?" "Das ist ganz einfach zu testen: Was fühlst du, wenn du ihn siehst?" "Naja, mein Herz schlägt schneller, mir wird schwindelig, die Welt scheint sich langsamer zu drehen und mein Blick ist getrübt - Ich nehme nur noch ihn wahr." Ich führte ihn mir wieder vor Augen. Wie einfach ich doch schildern konnte, was mir vorhin zu meinem Verhängnis geworden war. Ich verstand nicht, was mit mir los war: "Wieso kann ich das jetzt so locker schildern?" "Inwiefern?" "Vorhin konnte ich nicht festlegen, warum ich diese Empfindungen verspüre." "Ach, Irene. Du bist so unerfahren!" Constanze seufzte: "Das ist normal. Es ist neu für dich, da ist es kein Wunder, dass du es nicht festlegen kannst." "Aber... in meinen Büchern..." "Irene, im wahren Leben läuft es doch immer anders! Jeder fühlt anders." "Du musst es ja wissen." "Ja." "Gut, dann vertraue ich auf dich." "Ich versuche, dir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen!" "Conni, du bist echt die beste Freundin, die man haben kann!" "Immer stets zu Ihren Diensten, gnädige Miss Pawlow!" Wir lachten. Schließlich sagte Constanze: "Okay, Süße. Hast du dich einigermaßen von deinem Schock erholt?" "Ja, danke. Lecter hat mich nach Hause gebracht und ich bin gleich danach eingeschlafen." "Okay. Erhol dich trotzdem noch ein bisschen. Ich habe noch nie jemanden erlebt, der so einen Nervenzusammenbruch hatte, weil er sich verliebt hat." "Sie sagtest du so schön? Jeder reagiert anders." "Richtig. Erhol dich. Morgen erkläre ich dir, wovon die weiteren Vorlesungen handelten." "Alles klar. Bis morgen also." "Bis morgen, Süße." Wir legten auf. Es war also völlig normal, dass ich von meinem Gastdozenten träumte? Und dann noch auf eine solch anregende Art und Weise? Naja gut, Constanze musste es ja wissen! Leugnen konnte ich es nicht mehr, ich musste mir schlussendlich eingestehen, dass ich mich verliebt hatte - In mein eigentliches Vorbild Dr. Hannibal Lecter...

Ein paar Tage später...

Durch ein schrilles Geräusch schreckte ich auf. Ich hatte gerade von Dr. Lecter geträumt, der irgendwie immer mehr zum Hauptinhalt meiner Träume wurde. Jede Nacht, und auch sonst, wenn ich kurz die Augen schloss, war er da, fixierte mich mit seinem eisblauen Blick. Heute Nacht waren wir spazieren gegangen, hatten die wunderschöne sternklare Nacht über uns hereinbrechen lassen und schweigend unsere Zweisamkeit genossen. Ich hatte mich an ihn geschmiegt; In Träumen, so hatte ich mein schlechtes Gewissen beruhigt, war alles erlaubt! Auch solche Berührungen. So hatte ich seinen Duft eingeatmet, der mir seit Montag stetig in der Nase hing, dabei vollen Besitz von mir ergriff und seine Nähe in mir aufgenommen. Zumindest, bis ich durch das Erwachen abrupt von ihm weggezerrt wurde.
Langsam öffnete ich die Augen und.blinzelte. Es war so hell! Zu hell! Ich schlug mir die Decke über den Kopf: "Nein! Ich will nicht aufstehen! Ich will bei ihm bleiben! Es war gerade so schön!" Ich hielt inne. Ich hatte mich immer noch nicht ganz damit abgefunden. Es widersprach einfach komplett meinem Sinnbild der sittlichen Moral! Und dennoch genoss ich seine Anwesenheit in meinen Träumen, saugte sie auf wie ein trockener Schwamm. Plötzlich musste ich mich fragen, ob er auch schon wach war. Und wenn ja, was er gerade tat.
Ich lugte unter meiner schützenden warmen Decke hervor und riskierte einen Blick auf den Wecker, dessen blutrote Ziffern mir mitteilten, dass es halb neun war. Also Zeit, das Bett zu verlassen und einen neuen Tag zu beginnen. Aber heute stand mir überhaupt nicht der Sinn danach! Im Gegenteil, ich wollte am liebsten den ganzen Tag liegenbleiben und dem Doktor ganz nah sein... Da schimpfte die Stimme meines Verstandes mit mir: "Irene! Hör SOFORT damit auf! Steh auf, geh zur Universität und studiere!" Mit einem gequälten Stöhnen richtete ich mich auf, gähnte und streckte mich. Erneut schien die Sonne in mein Schlafzimmer und kündigte gutes Wetter an. Ich stand auf und taumelte schlaftrunken ins Badezimmer. Als ich dort in den Spiegel sah erkannte ich mit hochgezogenen Augenbrauen, dass meine Haare postkoital abstanden. Ich versuchte, sie zu bändigen - ohne Erfolg. So entschied ich mich für eine Dusche...
Als das Wasser auf mich nieder rieselte und meine Haut mit einer warmen Schicht bedeckte, schloss ich die Augen. Diese Wärme war total angenehm, belebte meine Sinne. Allerdings war es nicht ganz so angenehm wie der Hautkontakt zu einem gewissen Doktor. Sofort ließ ich diesen Gedanken fallen. Schaum lief von meinen Haaren über meine Schultern und tropfte leicht schwerfällig mit dem Wasser hinunter, verteilte sich um und auf meinen Füßen, bis er schließlich seinen Weg in den kleinen Abfluss fand. Mit den Fingern in dem Klumpen auf meinem Kopf, dem "Haarknäuel", massierte ich mir die Kopfhaut, ließ dabei die Augen geschlossen und seufzte. Drei Tage war die ungewöhnliche Begegnung mit Dr. Lecter nun her. Ich hatte ihn seit seiner Begleitung zu mir nach Hause nicht mehr gesehen. Auf der einen Seite freute es mich und auf der anderen Seite versetzte es mir einen kleinen Stich. Dieser Stich wurde mit jedem Tag größer und heute wurde er mir langsam richtig bewusst. Der Schmerz war zwar auszuhalten - aber er war da. Ich wollte ihn so gerne wiedersehen! Aber das würde wahrscheinlich erst Montag der Fall sein...
Meine Hände wanderten flink über meinen gesamten Körper, verteilten überall das Duschgel. An meinen Schultern hielten sie inne. Mit über Kreuz verschränkten Armen stand ich nun da, die Hände auf den Schultern ruhend. Dabei hatte ich wieder die Szene in dem leeren Raum der Universität von Montag vor Augen. Ich seufzte. Ich beschloss, einmal, nur dieses eine Mal meine Gedanken wandern zu lassen...

Dr. Lecter hockte neben mir auf dem Boden. Ich schmiegte mich an ihn und genoss die rhythmischen Züge seiner Hand auf meinem Rücken. Die Stellen, wo er mich berührte, brannten. Sie brannten, allerdings nicht vor Schmerzen. Nein, das war etwas anderes. Etwas, das ich mir nicht erklären konnte.
Mein Herz pochte wie wild, als ich zu ihm aufsah, direkt in sein lächelndes Gesicht. Er neigte seinen Kopf etwas zur Seite und zog fragend die rechte Augenbraue hoch. Ich studierte seine Gesichtszüge, musterte ihn, prägte mir dieses Bild so genau wie möglich ein. Langsam schob er sein Gesicht näher an meines, lächelte und hauchte etwas unverständliches. Ich wollte ihn gerade fragen, was er gemurmelt hatte, da traf mich ein Blitz. Ein Blitz mit einer solchen Heftigkeit, dass ich keinen passenden Vergleich dazu fand. Sanft oder eher noch hauchzart streiften seine Lippen die meinen, wagten es nicht, sich mit ihnen zu einem richtigen Kuss zu vereinen. Dennoch schloss ich die Augen, kostete diesen Moment in vollen Zügen aus. Mein Herz begann zu rasen - Es pochte immer schneller und schneller, drohte, aus meinem Brustkasten zu springen. Ich musste mich beruhigen. Aber wie? Wie konnte ich mich von ihm lösen, wo ich ihn doch schon die ganze Zeit so dicht bei mir haben wollte? Verzweifelt suchte ich eine Antwort, bekam fast nicht mit, wie Lecter sich zurückzog, mich in meiner langsam ansteigenden Ekstase zurückließ. Ich öffnete die Augen und sah, wie er sich langsam und anmutig erhob. Ich runzelte die Stirn: "Wo gehen Sie hin, Dr. Lecter?" Er warf mir einen Blick zu: "Vorlesungen." Das war alles, was er zu mir sagte. Meine Zungenspitze fuhr über meine Lippen und ich nahm den süßen Geschmack des Doktors in mir auf. Doch dann verstand ich: Vorlesungen...

Ich erwachte aus meinem Tagtraum und duschte schnell zuende. Dann schlüpfte ich in Rekordzeit in meine Kleidung und föhnte mir die Haare. Ich musste zur Universität! Ganz schnell!
Ich wirbelte durch das Haus, machte mir schnell ein Toast für unterwegs, schnappte mir meine Tasche und meinen Haustürschlüssel, als mir auffiel, dass ich nicht mit meine Schuhe sondern meine Hausschuhe mit dem kleinen Einhorn darauf anhatte. Stöhnend schlüpfte ich in meine Sneakers und kickte kopfschüttelnd meine Hausschuhe weg. Dr. Lecter nimmt mich wirklich komplett ein, dachte ich leicht verärgert...

Die Luft draußen war frisch und auflockernd. Überall duftete es nach Sommer - Ein wirklich schöner Duft, wie ich fand. Frisch gemähtes Gras aus den Vorgärten meiner Nachbarn vermischte sich mit dem beständigen Duft des Blumenhändlers und seiner Blüten und auch der Bäcker einige Gebäude später hatte seine Türen geöffnet, aus denen der Duft frischer Backwaren drang. Ein wunderschöner Morgen! Und du wolltest den Tag im Bett verbringen, meldete sich wieder diese fiese Stimme in mir. Ich ignorierte sie. Ich schlenderte den Gehweg entlang zur Universität, da stach mir die Titelseite des National Tattlers ins Auge: "FLÖTIST DES BALTIMORER SINFONIE-ORCHESTERS IMMER NOCH SPURLOS VERSCHWUNDEN. HAT DER CHEASAPEAKE RIPPER WIEDER ZUGESCHLAGEN?" Mir blieb fast das Herz stehen. Der Cheasapeake Ripper? Ich hatte zwar schon vor einiger Zeit von ihm gelesen, aber diese Schlagzeile versetzte mich in leichte Panik. Der Ripper hatte es scheinbar auf bekannte Leute abgesehen. Nun traf mich die Erkenntnis schwer wie ein Stein und mich ergriff die Angst: Dr. Lecter war ebenfalls sehr bekannt...

University LovestoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt