5.

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Ich schleuderte achtlos meine Tasche in eine Ecke, stolperte ins Wohnzimmer und ließ mich schwer auf meine rote Chaiselongue fallen. Mein linker Arm ruhte auf meinem Gesicht, der rechte hing anteilnahmslos herunter und meine rechte Hand berührte den Boden. Die Finger glitten durch die weichen langen Fasern des weißen Teppichs, spielten regelrecht damit, während ein langer Seufzer seinen Weg über meine Lippen fand. Ich schloss müde die Augen. Was hatte der Doktor bloß mit mir gemacht? Ein paar Stunden und ich erlitt den ersten kleinen Nervenzusammenbruch. Ein paar Stunden und ich schmiegte mich an seinen warmen Körper, was ich bis dahin immer nur bei meinem Vater zugelassen hatte. Dr. Lecter und mein Vater - kein anderer Mann hatte jemals seine Wärme mit mir teilen dürfen! Bis heute war ich immer sehr stolz darauf gewesen. Aber nun, wo ich ein solch groteskes Verhalten an den Tag legte, zweifelte ich an mir. Zum ersten Mal ließ ich mich von einer männlichen Begleitperson nach Hause bringen. Das hatte ich nie zuvor geduldet. Niemals. Ich fand, die Männer in dieser Zeit waren alle gleich. Ohne Ausnahme alle egozentrisch, ohne Rücksicht auf die weiblichen Bedürfnisse. Und Constanzes Erfahrungen bestätigten meine Thesen immer. Dennoch gab sie einfach nicht auf, flirtete und suchte weiter die Liebe - um am Ende dann doch wieder enttäuscht neben mir zu sitzen. Deshalb blieb ich bei meinen Romanhelden. Diese waren komplett anders, machten den Frauen den Hof. Ich will nicht sagen, dass ein Mann mir unbedingt den Hof machen muss! Aber ein bisschen Rücksicht fand ich dann schon etwas angemessen.
Meine Gedanken schweiften zurück zu Lecter. Er schien mir doch anders als andere Männer - das komplette Gegenteil! Er war so fürsorglich gewesen! So einfühlsam und verständnisvoll, wie ich es in diesen Momenten gebraucht hatte.
Ich hatte aufgehört, mich gegen meine Gedanken zu sträuben. Es würde mir nur einen weiteren Nervenzusammenbruch einbringen und diesmal würde der Doktor nicht einfach kommen und mich halten, mir Trost spenden. Ich wäre auf mich allein gestellt und ich wusste: Allein würde ich es nicht schaffen!
Unbewusst glitt ich von der Realität langsam in tiefen Schlaf...

Blinzelnd öffnete ich die Augen. Ich befand mich auf einer Lichtung. Ein kleines Stückchen Wiese, umgeben von dunklen, dicht stehenden Tannen. Ein paar Wolken zogen stetig über den helioblauen Himmel über mir und einige Sonnenstrahlen erhellten die Lichtung, vermischten sich mit dem zarten Nebel, der geheimnisvoll um meine Füße waberte. Ich fühlte mich beobachtet und ließ meinen Blick über mein näheres Umfeld schweifen. Er blieb an einer Picknickdecke hängen. Eine Picknickdecke, auf der weiße Rosen lagen. Ich näherte mich ihr langsam und vorsichtig. Dabei spitzte ich die Ohren, horchte aufmerksam auf unbekannte Geräusche und kam schließlich zum Stehen. Ich beugte mich hinunter und griff zaghaft nach einer Rose. Ich erhob mich wieder und schob die Blüte zu meiner Nase. Ich atmete ihren Geruch ein und hörte plötzlich eine bekannte Stimme: "So unschuldig... Weiß, unschuldig - und doch so gefährlich. Man denkt, sie wäre einem hilflos ausgeliefert. Dann will man sie packen und wird von ihren spitzen Dornen verletzt..." Ich sah mich fragend um. Dann nahm ich eine Bewegung zwischen zwei Tannen wahr. Aus der sich dahinter befindenden Dunkelheit glitt Dr. Lecter auf die Lichtung. Er bewegte sich ganz langsam und geschmeidig durch den Nebel, hielt seinen Blick stets auf mich gerichtet. Ich schreckte auf und ließ die Rose fallen: "Dr. Lecter." "Irene.", murmelte er und kam auf mich zu. Woher kannte er auf einmal meinen Vornamen?! Eigentlich war es mir egal, woher er ihn kannte - Dr. Lecter war hier! Mehr zählte für mich nicht!
Er kam vor mir zum Stehen: "Schön, dass du hier bist. Es scheint mir, du hast die Rosen gefunden. Ich hoffe, sie gefallen dir?" "Sogar sehr, Doktor!" Ich liebte weiße Rosen einfach. Und die Erkenntnis, dass diese hier von ihm stammten, ließ mich sie gleich noch etwas mehr lieben.
Er legte seine Hand an meine Wange. Doch dieses mal schreckte ich nicht zurück. Nein, ich nahm seine Wärme in mir auf, betrachtete ihn lächelnd. Und er erwiderte es. Langsam beugte er sich zu mir hinunter. Erwartungsvoll schloss ich die Augen. Wie würde es sein? Was würde genau passieren? Und zu was wäre ich danach fähig? Ich wusste es nicht. Woher denn auch?
Ich spürte bereits seinen warmen Atem angenehm auf meiner Haut, da wisperte er: "Noch nicht, Irene..." Und er entfernte sich wieder. Ich öffnete die Augen. Schade, dachte ich dabei und tadelte mich gleich für solche Gedanken. Er grinste, schien meinen inneren Konflikt bemerkt zu haben. Er ließ von mir ab, trat zurück und drehte sich schweigend um. Er ging zu der Stelle zurück, von der er gekommen war. Dort drehte er sich noch einmal zu mir um und selbst wenn er knapp zehn Meter von mir entfernt war, so hörte ich dennoch sein Hauchen, als stünde er immer noch direkt vor mir: "Iki pasimatymo, mano Vąikas..." Dann verschluckte ihn erneut die Dunkelheit des tiefen Waldes hinter den Tannen. Ich rief: "Dr. Lecter? Dr. Lecter?!" Dann schluckte ich und blieb allein zurück...

Ich schreckte auf. Kerzengerade saß ich auf der Chaiselongue und sah mich fragend um, bis ich realisierte, wo genau ich mich befand: Immer noch in meinem Wohnzimmer. Ich stöhnte leise und rieb mir die Schläfen. Iki pasimatymo, mano Vąikas... Diese Worte hallten immer noch in meinem pochenden Kopf. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gehört. Aber wo? Meine Großeltern! Sie waren doch vor einiger Zeit mal in diesem einen Urlaub... Angestrengt versuchte ich mir in Erinnerung zu rufen, wo sie damals gewesen waren. Die Antwort folgte relativ schnell. Litauen. Aber was bedeuteten diese Worte? Ich konnte nicht anders. Ich stand zitternd auf und lief vorsichtig zum Telefon. Granny würde vielleicht noch wissen, was es hieß. Ich wählte die Nummer und schob mir das Telefon ans Ohr. Nach den dritten Klingeln hob jemand ab: "Pawlow?" "Granny? Ich bin es, Irene." Stille. Dann ein lautes Rufen vom anderen Ende: "Irene, mein Schäfchen! Wie geht es dir? Was macht die Studie?" "Du meinst sicher mein Studium.", lachte ich. "Nun, bei mir ist alles bestens." "Ich höre aber in deiner Stimme etwas anderes." "Mir ist ein bisschen schwindelig. Deswegen bin ich auch jetzt schon Zuhause." "Kurier dich gut aus, mein Schatz.", mahnte Grandma. "Selbstverständlich. Wie geht's Grandpa?" "Der sitzt hier neben mir. Warte kurz..." Ich hörte den altbekannten Raucherhusten meines Großvaters und musste schmunzeln: "Grandpa! Wie oft habe ich es dir schon gesagt? Lass das Rauchen sein!" "Ach Irene. Lass einem alten Mann doch seinen Spaß!" Ich verdrehte die Augen: "Na gut. Aber pass' auf dich auf!" Mein Großvater ließ sich von niemandem etwas sagen. Nur meine Großmutter schaffte es, ihn von etwas zu überzeugen, dass ihm nicht gefiel. Wenigstens eine. Ich wurde aus den Gedanken gerissen: "Irene, du denkst über irgendetwas nach, stimmt's?" Wie machte Granny das bloß? Genau wie meine Mutter! Diese musste das wohl von ihr geerbt haben. Oder war ich einfach nur leicht zu durchschauen? Ich wusste es nicht: "Ähm... ihr wart doch vor einiger Zeit mal in... Litauen..." "Es war einfach nur herrlich!" "Das kann ich mir vorstellen." Ich musste gleich zur Sache kommen, sonst würde Granny stundenlang erzählen, was ich schon wusste: "Ihr habt damals doch so ein paar Brocken der Sprache aufgeschnappt... Könntet ihr mir sagen, was 'Iki pasimatymo, mano Vąikas.' heißt?" Grandpa seufzte: "Moment... Lass mich einen Moment nachdenken... Auf Wiedersehen, mein..." "Auf Wiedersehen, mein Kind.", beendete Granny seinen Satz. "Richtig, das war es." Ich runzelte die Stirn: "Warum wolltest du das wissen?", fragte Granny mich. "Nur... nur aus reinem Interesse..." "Irene Pawlow! Du kannst deiner alten Großmutter nichts vormachen! Hat das jemand zu dir gesagt?" "In meinem Traum. Nichts von großer Bedeutung." "Wäre es nicht von großer Bedeutung, hättest du nicht gefragt. Du hinterfragt nur Dinge, die dir sehr wichtig erscheinen.", sagte Grandpa. "Raus mit der Sprache!" "Ich schwöre, es ist nicht wichtig. Es war bestimmt bloß so eine Erinnerung aus meinem Unterbewusstsein." "Wenn dir etwas Sorgen bereitet, du weißt..." "Ja, dann sage ich Bescheid, Granny." Es war niedlich, wie sich meine Großeltern um mich sorgten! Einfach nur niedlich! Ich schrieb mir die gewünschten Informationen auf einen kleinen Zettel: "Und bei euch ist auch wirklich alles okay?" "Selbstverständlich, mein Schatz." Granny schien zu respektieren, dass ich nicht über meinen Traum reden wollte. Und dafür war ich ihr dankbar: "Du bringst mich auf eine Idee, Irene", sagte Grandpa plötzlich. "Wir sollten uns mal wieder bei deinen Eltern nach ihrem Wohlergehen erkundigen!" "Dann macht das. Ich muss dann jetzt auch los." "Irene, kurier dich aus!", ermahnte mich meine überfürsorgliche Großmutter erneut. Ich verdrehte die Augen: "Das mache ich. Bis bald. Passt auf euch auf." "Machen wir. Du aber auch auf dich, hörst du?" "Ist gut. Ich liebe euch! Bis bald mal." "Bis bald, Schatz. Wir lieben dich auch." Ich legte auf. Dann sah ich gedankenverloren aus dem Fenster. "Auf Wiedersehen, mein Kind." ... Das war es, was Dr. Lecter zu mir gesagt hatte. Ich stürzte in mein Bürozimmer. Dort lagen meine Magazine über Psychologie. Ganz oben thronte der Artikel über Dr. Lecter. Und da stand es: "Dr. phil. Hannibal Lecter, geboren am 20. Januar 1938 in Litauen." Also deshalb sprach er in meinem Traum litauisch, stellte ich fest. Es war knapp zwei Tage her, dass ich den Artikel gelesen hatte. Wahrscheinlich hatte sich diese Information über ihn in mein Unterbewusstsein gebrannt. Aber warum? Ich wusste es nicht. Langsam kehrte ich ins Wohnzimmer zurück. Ich sah auf die Uhr. es war bereits halb vier?!?! Wie lange hatte ich denn bitte geschlafen? Vor allem Nachmittags, wo ich eigentlich nie schlafen konnte!
Kopfschüttelnd ging ich zum Telefon. Ich brauchte jetzt dringend einen guten Rat! Und ich wusste auch schon, wo ich den bekommen könnte...

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