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Ich hatte in der letzten Nacht nicht sonderlich viel geschlafen. Nachdem Hannibal angerufen hatte, war ich so aufgeregt, dass ich nicht schlafen konnte. Ich hoffte inständig, dass er das verstehen würde.
Ich trank gerade die sechste Tasse Kaffee, da klingelte es an der Tür. Mit einem breiten Grinsen öffnete ich und verlor mich sofort in den eisblauen Augen, die ich über alles liebte: "Hallo, Irene. Du siehst müde aus. Ist das meine Schuld?" Er war so rücksichtsvoll! Ich zog ihn an mich und lächelte: "Teilweise. Ich war nach deinem Anruf so aufgeregt, dass ich nicht mehr schlafen konnte." "Tatsächlich? Nun, ich entschuldige mich noch einmal aufrichtig dafür. Aber auch ich habe diese Nacht nicht sonderlich viel Schlaf bekommen, falls dich diese Information etwas aufheitert." Tatsächlich hatte er dunkle Schatten unter den Augen. Vorsichtig legte ich meine Hand an seine Wange: "Mir geht es gut, solange es dir gut geht.", flüsterte ich. Er beugte sich kurz zu mir herunter und streifte mit seiner Nase die meine: "Können wir los? Oder brauchst du noch etwas Zeit?", fragte er leise. Ich lächelte: "Hast du noch zwei Minuten? Dann schlüpfe ich eben in meine Schuhe, warte kurz..." Ich löste mich von ihm und schlenderte zu meinen Sneakers.
Erst jetzt bemerkte ich den Korb in Hannibals Hand. Hannibals grinste und hielt mir den Arm hin: "Bereit?" Ich hakte mich bei ihm unter: "Bereit, wenn du es bist." Er murmelte grinsend: "Eine geniale Antwort. Die muss ich mir einmal merken."
Wir schlenderten langsam durch dem Park. Das Lachen von Kindern drang an mein Ohr. Ich spürte, wie Hannibal sich kurz versteifte. In seinen Augen lag ein Funkeln. Ich fragte leise: "Ist alles in Ordnung?" Plötzlich sah er mich an: "Hm? Hast du etwas gesagt, Irene?" "Ich habe gefragt, ob alles in Ordnung ist. Du wirktest gerade etwas abwesend." Er richtete seinen Blick starr in die Ferne: "Ich... habe gerade... an meine Kindheit zurückgedacht..." "Oh, tatsächlich? Magst du mir davon erzählen?" Plötzlich blieb er stehen. Seine Miene war eiskalt und sein Blick hart wie Stahl: "Irene, frage mich nie wieder nach meiner Kindheit! Ich möchte darüber nicht sprechen." So hatte ich ihn noch nie gesehen. Panik stieg in mir auf, als in seine Augen ein bestialisches Blitzen drang. Instinktiv machte ich einen Schritt nach hinten: "Tut... mir leid, Hannibal... Das... konnte ich nicht wissen..." Er hielt inne und wurde augenblicklich wieder sanft wie eh und je: "Nein, du konntest es nicht wissen. Wie denn auch? Lass uns nun bitte nicht mehr darüber sprechen." Er hielt mir seine Hand hin, die ich zaghaft ergriff. Was war denn das gerade? Was war ihm in seiner Kindheit widerfahren, dass er so hart reagierte? Es musste auf jeden Fall etwas schlimmes sein...

Schließlich entschieden wir uns für einen Platz am Ufer des Sees. Ich war schon einige Male mit Constanze hier gewesen und es gefiel mir hier sehr gut. Auch Hannibal war einverstanden gewesen: "Dies ist ein schöner Platz, Irene. Du hast ein wirklich gut ausgeprägten Sinn für Ästhetik." Bei diesem Lob wurde mir sogleich wieder ganz warm ums Herz und mit einem Lächeln breitete ich die Decke aus. Hannibal nahm Platz und öffnete den Korb: "Mal sehen... Herrje, was ist denn das?" Verwirrt legte ich den Kopf zur Seite. Hannibal grinste und zog eine weiße Rose aus dem Korb hervor, die er mir mit einem Augenzwinkern reichte. Sofort hielt ich sie an meine Nase und atmete tief ihren süßlichen Duft ein: "Das ist so süß von dir!", murmelte ich dabei. Er rührte mich mit dieser Geste.
Als nächstes präsentierte Hannibal Fleisch in mehreren Varianten. Ich fragte: "Was ist das?" "Du meinst, was das einmal war?", erwiderte er und grinste. Wieder trat ein Funkeln in seine Augen, das mir irgendwie unangenehm war. Dann erklärte er: "Das, Irene, war einmal ein Schwein." Es sah nicht wirklich aus wie ein Schwein, aber ich fragte nicht weiter nach. Hannibal wusste, was er tat! Und ich war nicht gerade die Meisterköchin...
Ich probierte nun also seine verschiedenen Varianten des Schweins: "Wow, Hannibal, das schmeckt ja wieder ganz vorzüglich! Was hast du hier gemacht?" "Irene, das darf man nicht fragen. Das verdirbt sonst die Überraschung. Im übrigen habe ich Rezepte hierfür angelegt, die ich niemandem jemals verraten werde. Ich hoffe, du verstehst das." Ich nickte: "Schon gut. Es hat mich nur interessiert. Aber wenn du darüber nicht reden möchtest, ist das auch in Ordnung." Ich rutschte zu Hannibal und platzierte mich auf seinem Schoß. Er grinste: "Was wird das denn jetzt?" "Ich genieße es, mit dir hier zu sitzen, Hannibal.", antwortete ich und grinste ebenfalls. Er zuckte kurz mit einer Augenbraue und hauchte: "Mach den Mund auf, Irene." Ich gehorchte und er fütterte mich mit einem weiteren Stück Fleisch. Genüsslich kaute ich auf und rieb meine Nasenspitze grinsend an seiner, da vernahm ich plötzlich eine bekannte Stimme hinter mir: "Ah, Dr. Lecter! Schön, dass ich Sie hier antreffe!" Ich stöhnte innerlich genervt auf. Warum gerade jetzt?
Ich kletterte von Hannibals Schoß, damit sich dieser aufrichten konnte: "Special Agent Graham! Wie ungewöhnlich, Sie hier anzutreffen." Der blonde Profiler mit den stahlblauen Augen stand hinter uns und grinste. Dann fiel sein Blick auf mich und er reichte mir die Hand: "Das hätte ich auch fast gesagt, aber dann sah ich Ihre Begleitung und konnte es verstehen. Sie sehen hinreißend aus, Irene." Ich errötete leicht unter diesem Kompliment, erwiderte allerdings frech: "Sie sehen ein wenig erschöpft aus, Will." Er fuhr sich durch die Haare, die am Ansatz bereits vom frischen Schweiß glänzten: "Sport muss sein, sage ich mir immer und zwinge mich zum Laufen." "Aber doch nicht ohne etwas zu trinken.", sagte ich und zog eine Flasche Wasser aus dem Korb, die ich ihm reichte. Er trank in tiefen Zügen und bedankte sich. Hannibal hatte in der Zwischenzeit den Kopf etwas zur Seite geneigt und lächelte: "Nun, Special Agent Graham, kann ich noch irgendetwas für sie tun? Haben Sie schon Fortschritte in unserem Fall?" Er schüttelte den Kopf: "Nichts. Einfach keine Spur vom Ripper." Dann überlegte er kurz: "Ähm... haben Sie heute Abend schon etwas vor, Dr. Lecter?" Dieser warf einen kurzen Blick auf mich. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf und er antwortete: "Nein. Möchten Sie zu mir nach Hause kommen, so dass wir noch ein wenig überlegen können, um wen es sich handelt?" Die blauen Augen des Profilers blitzten kurz: "Genau. Ich bin gleich mit Molly und Josh bei ihren Eltern zum Essen und würde dann heute Abend zu Ihnen kommen, wenn es keine Umstände macht." "Aber nein, keineswegs." Will warf einen Seitenblick auf mich und zwinkerte mir lächelnd zu: "Stört es Sie auch nicht, Irene? Können Sie Dr. Lecter entbehren?" Ich zuckte mit den Schultern: "Ich kann nichts versprechen. Sollte die Sehnsucht zu groß werden, dann können Sie damit rechnen, dass ich mich zu Ihnen gesellen werde. Vielleicht fällt mir ja wieder etwas hilfreiches ein wie letztes Mal." Hannibal zog mich an seine Seite: "Eine gute Idee." Auch der Profiler schien damit kein Problem zu haben: "Letztes Mal waren Sie wirklich eine gute Hilfe.", murmelte er nachdenklich. Dann schüttelte er Hannibal und mir die Hand: "Gut, dann hätten wir das geklärt. Ich komme also heute Abend vorbei, Dr. Lecter." "Es ist mir ein Vergnügen.", antwortete dieser und lächelte. Erneut zwinkerte Will mir zu, dann drehte er sich auf dem Absatz um und joggte zurück in die Richtung, aus der er gekommen war. Ich bückte mich und begann, die Sachen zurück in den Korb zu legen: "Stört es dich auch wirklich nicht, Irene?", fragte Hannibal. Ich stand auf, zog ihn an mich und grinste: "Wenn dadurch die Chance besteht, diesen elenden Chesapeake Ripper endlich dingfest zu machen, dann stört es mich überhaupt nicht. Und wie gesagt - Sollte meine Sehnsucht nach dir zu groß werden, leiste ich euch Gesellschaft. Das ist schließlich eine wirklich interessante Erfahrung für meinen späteren Beruf..." Er nickte: "Nun gut. Dann sehen wir uns vielleicht heute Abend. Ich muss noch einige Sachen vorbereiten." Ich küsste ihn sanft: "In Ordnung. Ich liebe dich." Mit diesen Worten gab ich ihn frei und Hannibal machte sich auf den Weg mach Hause. Ich sah ihm voller Liebe hinterher und entschied mich, in die entgegengesetzte Richtung zu gehen. Ich würde den Rest des Tages vermutlich bei Constanze verbringen...

"Und er hat dich zu einem Picknick eingeladen? Das ist ja süß!" "Constanze, jetzt beruhige dich doch!"
Den ganzen Nachmittag über bis hin zum relativ späten Abend saß ich mit Constanze auf der Terrasse und erzählte ihr von dem Treffen mit Hannibal. Das Gespräch mit Special Agent Graham ließ ich allerdings erst einmal außen vor, da ich von diesem nichts preisgeben sollte. Constanzes Blick wurde immer weicher, je mehr ich erzählte: "Es ist zu niedlich, wie er mit dir umgeht! Da hast du wirklich einen ganz feinen Mann gefunden!" Ich grinste: "Oh ja! Und den möchte ich auch nicht wieder hergeben! Für nichts auf dieser Welt!" "Das kann ich mir tatsächlich vorstellen.", kicherte sie und zwinkerte mir zu. Je länger ich an Hannibal dachte, desto dringender wollte ich wieder zu ihm. Natürlich blieb dies meiner besten Freundin nicht verborgen: "Du sehnst dich gerade mal wieder ziemlich nach ihm, nicht wahr?" Ich seufzte leise: "Ja... Es ist seltsam, aber ich kann einfach nicht mehr ohne ihn leben! Ich brauche seine Präsenz irgendwie sehr..." Nun stand sie auf: "Dann geh, Irene. Geh zu deinem Doktor." Ich sah sie an: "Meinst du?" "Klar! Wenn du ihn so sehr brauchst, dann geh zu ihm!" Ich fiel ihr um den Hals: "Danke, Constanze! Ich danke dir so sehr!" Sie brachte mich grinsend zur Tür: "Liebe Grüße an Dr. Lecter von mir, ja?" "In Ordnung.", rief ich über die Schulter, während ich bereits los lief. Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu sehen!
Bei Hannibal Zuhause bot sich mir jedoch ein verwirrendes und angsteinflößendes Bild: Überall standen Streifenwagen, deren blaues Licht erhellte die Straße. Ein Wachmann versuchte mich zurückzuhalten, den ich allerdings überhaupt nicht wahrnahm. Mich interessierte im Moment nur eine Sache: Was war hier los und vor allem - Wo war Hannibal?!
Ich kämpfte mich an zahlreichen Wachmännern vorbei und sah, wie zwei Leute einen schwer verletzten Will Graham aus Hannibals Haus trugen. Was war hier bloß geschehen?! Die Antwort folgte sogleich, als erneut Wachmänner aus dem Haus kamen, zwischen ihnen Hannibal mit eiskaltem Blick. In seinem Unterleib steckte ein Pfeil und sein Hemd war blutdurchtränkt. Als er mich in seine Sicht nahm, zeigte er keine Regung. Ich rief panisch: "Hannibal! Was ist hier geschehen? Geht es dir gut? Was soll das alles?" Er sagte nichts, sah mich nur an. Sein Blick war so eiskalt, dass es mir mehrere Schauer über den Rücken jagte. Allerdings waren diese nicht so angenehm wie sonst! Es schien, als würde er mich nicht erkennen.
Die Männer führten ihn ab, ignorierten mich, als ich sie davon abzuhalten versuchte. Plötzlich legte mir ein weiterer Mann fortgeschrittenen Alters die Hand auf die Schulter: "Guten Abend, Ma'am. Ich bin Special Agent Jack Crawford, FBI. Kommen Sie mal bitte mit, ich müsste mich ein wenig mit Ihnen unterhalten." Ich bekam nur noch unterbewusst mit, dass er mich sanft von Hannibals Haus weg führte. Mein Blick hing fest an dem Wagen, in dem Hannibal sich befand: "Hannibal...", wimmerte ich leise und voller Panik, denn ich konnte einfach nicht verstehen, was hier gerade passiert war...

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