Mit klopfendem Herzen und zittrigen Knien stand ich vor Lecters meiner Meinung nach riesigem Haus. Gleich war es soweit! Wenn sich diese riesige Tür öffnen würde, dann gäbe es für mich keine Rettung mehr! Ich wusste, wenn meine Augen ihn auch nur für einen winzigen Moment erfassten, dann würde etwas Unbegreifliches in mir ausgelöst. Noch blieb ich gelassen, noch konnte ich fliehen. Doch eine Stimme in mir tadelte: "Stell dich nicht so an! Er ist ein Mensch wie du! Er wird dich schon nicht beißen..." Ich konnte mir keine weiteren Gedanken machen, denn ich hörte Schritte im Haus. Schnell glitt ein prüfender Blick an mir herunter und ich zog mein T-Shirt gerade: "Ganz ruhig bleiben", murmelte ich, kurz bevor die Tür aufging. "Du packst das, Pawlow!" Dann traf mich der Schlag.
Anmutig stand er vor mir, lehnte sich lässig an den Türrahmen. Er grinste mich an und zwinkerte mir zu: "Guten Tag, Miss Pawlow. Ich habe Sie bereits sehnsüchtig erwartet. Bitte - kommen Sie herein." Er stellte sich an die Seite und machte eine einladende Geste. Viel zu schüchtern wich ich seinem Blick aus, dann trat ich ein. Ich hauchte ein leises: "Guten Tag, Dr. Lecter." Er schloss hinter mir die Tür und ging voran in sein Arbeitszimmer. Oder war es doch eher ein Wohnzimmer?
Für den Doktor war es beides, dich ich war mir nicht so sicher. Unschlüssig folgte ich ihm. Mit jedem Schritt hörte ich lautere klassische Musik. Ich hatte aber auch nichts anderes erwartet: "Nun gut, Miss Pawlow... ähm... Wie geht es Ihnen? Haben Sie sich gestern erholt?" Als ich an den gestrigen Tag dachte, wanderte ein kurzes Lächeln über meine Lippen. Ich nickte - doch der Doktor runzelte die Stirn: "Tststs... Miss Pawlow, hat Ihnen denn niemand beigebracht, dass es sehr unhöflich ist, seinen Gesprächspartner anzulügen?" Augenblicklich erstarrte ich. Woher wusste er, dass ich gelogen hatte? Schuldbewusst senkte ich den Blick: "Entschuldigen Sie bitte vielmals, Doktor... Ich dachte nur, naja..." "Reden Sie weiter, Miss Pawlow.", drängte er mit einem Hauch von Milde in der Stimme. Er schien zu merken, wie unangenehm mir diese Situation war: "Ich dachte, Sie wären nun vielleicht enttäuscht von mir, wenn Sie wüssten...", murmelte ich. Er seufzte resigniert: "Miss Pawlow, es gibt kaum etwas, das mich mehr enttäuscht, als angelogen zu werden. Dadurch machen Sie mir deutlich, dass ich meinem Gegenüber nicht vertrauen kann. Verstehen Sie?" "Dr. Lecter, ich versichere Ihnen - Mir können Sie vertrauen!" Der Gedanke daran, dass er mir nicht trauen könnte, ließ mir einen eisigen Schauer über den Rücken jagen. Das wollte ich überhaupt nicht! Er blieb ernst: "Das möchte ich allzu gern glauben, Miss Pawlow!" "Bitte, Doktor - könnten wir das nicht aus der Welt schaffen? Es tut mir wirklich aufrichtig Leid! Es wird nie wieder geschehen, das schwöre ich!" Er neigte leicht den Kopf, schien zu überlegen. Schließlich nickte er und lächelte leicht: "Ihre Reue beweist mir, dass Sie es ernst meinen! Aber warum lügen Sie überhaupt wegen solcher kleinen Lappalien?" Ich wendete den Blick ab: "Ich wollte nicht, dass Sie schlecht von mir denken." "Ich denke viel schlechter von Ihnen, wenn Sie mich anlügen, Miss Pawlow. Außerdem - warum sollte ich schlecht von Ihnen denken? Ich habe Ihnen nur einen Rat erteilt. Ob Sie diesen befolgen, ist Ihre Sache." Ich wusste keine Erwiderung darauf, doch er schien auch keine zu erwarten. Stattdessen sagte er nur noch: "Merken Sie sich eine Sache, Miss Pawlow: Ich bin für Spaß zu haben, keine Frage. Doch ich merke sofort, wenn mich jemand versucht, anzulügen! Das finde ich unhöflich und Unhöflichkeit kann ich nicht tolerieren. Haben Sie mich verstanden?" Sein Blick war während der letzten Worte eisig kalt geworden. So ernst hatte ich ihn noch nie gesehen! Es musste ihm sehr wichtig sein! Eingeschüchtert nickte ich rasch und seine Züge wurden wieder sanft. Er lächelte: "Gut und jetzt sollten wir das Thema ruhen lassen, finden Sie nicht?" Wieder nickte ich. Ich konnte es nicht ertragen, wenn er streng mit mir war. Ich hatte es auch überhaupt nicht böse gemeint! Aber er hatte recht - wir sollten das Thema ruhen lassen. Immerhin verbreitete sich dadurch schlechte Laune und mit schlechter Laune lernte es sich sehr schwer.
Ich beschloss, das Thema zu wechseln: "Doktor, wie heißt eigentlich dieses Stück, das wir gerade hören?" Er schmunzelte: "Das, meine Liebe, ist das Stück "Prelude and Fugue No. 12 in F minor" von..." "... Von Johann Sebastian Bach, ich verstehe.", beendete ich seinen Satz. Er neigte den Kopf und ich erklärte: "Es war mir bekannt, nur der Titel fiel mir nicht mehr ein." "Kennen Sie sich mit klassischer Musik aus?" "Naja, ich habe darüber viel von... meinem Vater gelernt." Er hielt kurz inne, dann bemerkte er: "Wie unhöflich von mir! Miss Pawlow, wollen Sie sich nicht setzen? Bitte, nehmen Sie doch vor meinem Schreibtisch Platz." Dieser war leer geräumt. Von sämtlichen Akten, Ordnern und losen Zetteln fehlte jede Spur. Ich tat, wie mir geheißen und setzte mich. Er ließ sich in seinen Sessel fallen und seufzte: "Miss Pawlow, Sie haben mich neugierig gemacht - Was genau hat ihr Vater Sie gelehrt?" Vor meinem inneren Auge flammten Erinnerungen auf. Erinnerungen an meinen Vater und unsere gemeinsame Zeit. Ich holte tief Luft und erzählte: "Mein Vater... hatte ein äußerst gutes Gedächtnis. Wenn ihn etwas interessierte, dann konnte er sich jahrelang daran erinnern. Er war begeistert von der Klassik, versuchte so viel davon zu behalten, wie ihm möglich war. Meine Mutter arbeitete viel, vor allem am Wochenende und da führte mein Vater mich in diese Welt." Dr. Lecter neigte leicht den Kopf: "Sie reden die ganze Zeit in der Vergangenheitsform. Darf ich davon ausgehen...?" "Dass mein Vater bereits verstorben ist? Ja, dürfen Sie, Doktor. Wissen Sie, er hatte einen Hang zum Alkohol. Aber er wurde nie abfällig oder gewalttätig oder so! Manchmal übertrieb er es allerdings mit dem Alkoholgenuss und starb dann schließlich an den Folgen einer Alkoholvergiftung. Das war vor drei Jahren." Ich senkte den Blick. Dann sah ich wieder zu Dr. Lecter auf, doch dieser starrte an die Decke, wirkte abwesend, als stellte er sich das Ganze bildlich vor: "Wie offen Sie sprechen, Miss Pawlow! Es ist bewundernswert, wie flüssig Sie die Worte herüberbringen, wobei ich denke, dass Sie von Bildern der Erinnerung geplagt werden. Gehe ich Recht dieser Annahme?" Nun sah er wieder zu mir. Ich nickte langsam und schluckte. Ich hatte lange genug geweint! Ich würde nicht noch einmal vor dem Doktor in Tränen ausbrechen!
Er fragte: "War das der Grund, warum Sie hierher gezogen sind? Haben Sie es Zuhause nicht mehr ausgehalten?" Wieder nickte ich: "Ich wollte studieren. Dann kam der Tod meines Vaters und ich war erstmal ziemlich in mich gekehrt, nahm meine Umgebung nur noch schwammig wahr, war wenig aktiv. Dazu neige ich zur chronischen Lethargie. Wie Sie sich vielleicht denken können, zog ich mich zurück. Doch auch das wurde mir mit der Zeit zu viel. Ich beschloss, mit dem Thema endgültig abzuschließen und wusste, dass ich das nur schaffe, wenn ich mit dieser Umgebung nichts mehr zu tun habe. Und so kam ich hierher." Der Doktor blinzelte, dann fragte er weiter: "Wie steht es mit Ihrer Mutter? Wohnt Sie auch hier?" "Nein, sie blieb dort. Sie hatte ihre Arbeit, Freunde, die ihr halfen - sie kam schneller über die Sache hinweg als ich." "Hmm... Entschuldigen Sie bitte meine Aufdringlichkeit, es ist die Macht der Gewohnheit, die mich all diese Dinge fragen lässt." Ich lächelte: "Ich danke Ihnen, Dr. Lecter. Sie sind der erste hier in Baltimore, dem ich von meinem kleinen Problem erzähle." Er fragte: "Und warum haben Sie noch niemandem davon erzählt?" Ich überlegte: "Ich glaube, ich wollte verhindern, dass meine Wunden wieder aufreißen. Und das wäre passiert, ich weiß das!" "Und jetzt? Wie steht es jetzt mit Ihren Wunden?" Ich schloss die Augen und überlegte. Irgendwie fühlte ich mich... auf spezielle Art und Weise besser: "Naja... Wenn ich nun an meinen Vater denke, dann... tut es nicht mehr so weh." Er lehnte sich grinsend zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf: "Na also. Ich wusste schon die ganze Zeit, dass da eine ziemlich schwere Last auf Ihren zarten jungen Schultern lastet." "Ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken kann, Doktor!" Er grinste schelmisch und sagte: "Beginnen wir doch damit, dass Sie mich duzen." Er beugte sich leicht in meine Richtung und hielt mir die Hand hin: "Ich bin Hannibal."

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University Lovestory
Fiksi PenggemarIrene Pawlow studiert Medizin an einer Universität in Baltimore. Eines Tages trifft sie dort auf Dr. Hannibal Lecter als ihren Gastdozenten - mit fatalen Folgen.