Mit zitternden Händen hielt ich die Zeitung. Meine Finger verkrampften sich und ich wusste: Wäre ich doch bloß im Bett geblieben!
Normalerweise interessierten mich Serienmörder im gewissen Maße. Das lag hauptsächlich an meinem Studium. Aber dieser Fall: Jetzt, wo ich eine Gefahr für Dr. Lecter erkannte, wurde mir leicht schwindelig. Wenn ihm nun etwas zustoßen würde? Würde ich das aushalten? Würde ich mich damit abfinden können, ihn nie wieder zu sehen? Von vorigen Opfern kannte ich bereits das Muster des Cheasapeake Ripper: Erst entführte er seine Opfer. Wenn sie dann einige Tage als Leichen wieder auftauchten, fehlten gewisse Organe. Mal die Leber, mal das Herz - ganz unterschiedlich. Diese Organe wurden nicht gefunden. Ich glaubte daran, dass der Cheasapeake Ripper ein Kannibale war. Aber nach meiner Meinung wurde ja nicht gefragt, deswegen teilte ich dies nur Constanze mit. Diese schüttelte dann immer den Kopf: "Irene, du interessierst dich für Sachen..."
Ungewollt erschien mir ein Bild vor Augen, welches mich erstarren ließ. Meine Finger verkrampften sich noch mehr, drückten sich mit grober Gewalt in das weiche Papier. Vor meinem inneren Auge lag Dr. Lecter auf steinernem Boden, am Bauch eine klaffende Wunde. Ich lugte vorsichtig hinein und fand kein Herz vor...
Ich zuckte zusammen und erschrak. Dieses Bild war extrem grausam! Doch es war zu spät. Es blieb hängen, ich wurde es nicht mehr los. Schnell legte ich die mit kleinen Beulen versehene Zeitung weg und sah auf meine Armbanduhr. Jetzt musste ich mich stark beeilen, wenn ich noch rechtzeitig da sein wollte! Professor Rudolphus hasste Verspätungen. Und das konnte ich ihm nicht einmal verübeln, denn es wirkte sich störend auf die Vorlesung aus, weil jegliche Konzentration an dem sich verspätenden verloren ging. Diesen Ruf wollte ich mir heute ungern aneignen. Deswegen joggte ich die letzten paar hundert Meter zur Universität, wo ich bereits wieder von Constanze erwartet wurde..."Na? Wie geht... Herrje, Irene! Was ist los mit dir?!" "Tut mir Leid... Ich bin etwas spät dran..." "Das ist mir egal! Dein Gesichtsausdruck! Du siehst aus, als hättest du ein Monster gesehen! Kreidebleich... bist du Dr. Lecter begegnet?" "Ich wünschte, es wäre so." Ich kam bei ihr zum Stehen: "Leider habe ich etwas gelesen, was mir einen gehörigen Schrecken eingejagt hat." "Wirklich?" Constanze zog eine Zeitung aus ihrer Tasche. Ich wendete schnell den Blick ab: "Bitte, Constanze, pack das weg." "Der Cheasapeake Ripper hat wieder zugeschlagen." "Ja, ich weiß! Pack es bitte weg!" Constanze stopfte die Zeitung zurück in die Tasche und sah mich fragend an: "Was genau stört dich daran?" "Wen sich der Cheasapeake Ripper als Opfer aussucht. Es scheint mir, er wählt nur bekannte Leute." "Und warum stört dich das?" Ich warf ihr einen mehr als deutlichen Blick zu. Sie überlegte, dann schien sie zu verstehen: "Der Doktor!" Ich nickte. Sie nahm mich spontan in die Arme: "So was von verliebt..." Ich seufzte nur. "Mach dir keine Sorgen, Irene. Dem Doktor wird schon nichts passieren! Und selbst wenn: Er sieht so stark aus. Ich glaube, er könnte sich wehren." "Meinst du?" "Klar. Und jetzt komm mit - Professor Schnarchnase wartet bestimmt schon auf uns." Ich musste grinsen. Den Namen "Schnarchnase" hatte ich Professor Rudolphus vor einiger Zeit gegeben. Nur Constanze und ich nannten ihn so - wenn er nicht dabei war.
Ich hakte mich bei Constanze unter und wir liefen in die Vorlesung..."Wer sagt's denn? Der Prof ist noch nicht einmal da!" Constanze und ich betraten den wie immer schon vollen Saal und setzten uns auf unsere Plätze. Die anderen Studentinnen umringten wie immer Steven McLaren, der in ihrer Mitte saß und von irgendwas prahlte, was mich herzlich wenig interessierte. Er nervte mich einfach. Ich konnte ihn ignorieren - doch leider bemerkte er meine Anwesenheit: "Ey, Pawlow! Lange nicht gesehen! Wo warst du?!" "Das geht dich nichts an, Steven. Aber ich möchte dir trotzdem antworten: Ich war krank." "Oh, armes Mädchen..." Er stellte sich neben mich und legte mir den Arm um die Schultern. Sein heißer Atem war dicht an meinem Ohr als er flüsterte: "Warum hast du nichts gesagt? Ich hätte einen Weg gewusst, dich zu kurieren..." "Nein, danke, Steven." "Zier dich doch nicht immer so!" "Steven, ich war krank! Wenn ich krank bin, steht mir nicht der Sinn nach Geschlechtsverkehr! Und schon gar nicht mit dir!" Er wollte gerade etwas erwidern, da ging die Tür auf und Professor Rudolphus kam herein. Steven knurrte nur noch etwas und ging zu seinem Platz. Auch die anderen Studentinnen und Studenten schlichen zu ihren Plätzen. Professor Rudolphus begrüßte uns: "Guten Morgen, liebe Studentinnen und Studenten. Leider hatte Dr. Lecter heute einen wichtigen Termin und wird deswegen erst Montag wieder bei Ihnen sein " Ich blickte wissend auf meinen Tisch. Constanze bedachte mich mit einem Blick von der Seite, den ich kurz kopfschüttelnd erwiderte. Er hatte es mir Montag gesagt. Trotzdem fand ich es schade, ihn heute nicht sehen zu dürfen.
Constanze sah mich immer noch an, mittlerweile grinste sie: "Du vermisst ihn, nicht wahr?", wisperte sie. Ich gab mich geschlagen und nickte langsam: "Ich habe ihn erst einmal getroffen... Und dennoch ist er schon jetzt zu einem gewissen Lebensinhalt von mir geworden." "Oh Irene... Ja, dich hat es erwischt. Voll erwischt!" Ich sah wieder auf meinen Tisch, dann richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Professor Rudolphus. Ich durfte nicht jede Stunde träumen! Doch schon nach fünf Minuten verlor ich wieder jegliches Interesse und begann, auf einem Zettel aus meinem Collegeblock zu zeichnen. Unbewusst führte ich mir Dr. Lecter vor Augen. Der Bleistift wanderte wie von alleine über das Papier und am Ende der Vorlesung lächelte mich ein kleiner Dr. Lecter an. Erst jetzt bekam ich langsam mit, was ich da gerade gezeichnet hatte. Ich hörte Constanze neben mir leise keuchen: "Also Irene, dass du zeichnen kannst, das wusste ich ja schon immer. Aber dass du SO GUT zeichnen kannst... Respekt!" Ertappt schloss ich schnell den Collegeblock, versuchte so, den Doktor zu verstecken und sah Constanze an. Ich spürte, wie mir Hitze in die Wangen stieg. Sie grinste nur: "Irene, das muss dir nicht peinlich sein!" "Doch! Er ist so viel älter!" "Du gehst auch immer nur vom Alter aus! Irene, ES GEHT UM LIEBE!" Ich senkte traurig den Blick: "Als könnte er jemanden wie mich lieben..." "Hey, rede nicht so! Du bist eine mutige, selbstbewusste Frau!" "In seiner Gegenwart nicht!" "Egal! Irgendwann wird er das noch sehen. Ich habe gesehen, wie er dich Montag behandelt hat, als es dir so schlecht ging. So eine Fürsorge sieht man bei Dozenten gegenüber Studenten nicht häufig!" "Nein?" "Nein." "Und was ist mit Professorin Sinner und diesem Tony?" "Die sind jetzt auch zusammen!" "Stimmt." "Irene, gib die Hoffnung nicht auf! Es lohnt sich immer, für die Liebe zu kämpfen!" Ich seufzte: "Ich hoffe, du hast recht." "Bestimmt. Und jetzt los! Wenn wir schon von Professorin Sinner reden - bei ihr haben wir unsere nächste Vorlesung!" "Stimmt. Dann los." Ich packte meine Sachen und wir liefen in den Westflügel...Wir schafften es noch gerade rechtzeitig, vor Professorin Sinner in den Saal zu rutschen. Ich sah mich kurz um: Kein Steven McLaren war zu sehen. Perfekt! Constanze und ich nahmen Platz, da begann auch schon die Vorlesung.
Professorin Sinner war, ganz anders als Professor Rudolphus, klein und zierlich. Sie war so um die vierzig, schätzte ich, und hatte schulterlanges und lockiges blondes Haar. Ihre Haltung verriet, dass sie zwar nett und freundlich, aber auch wütend sein konnte: Sie stemmte zwar immer die Hände in die Hüften, lächelte aber auch. Doch wenn sie wütend war, lag ihre Stirn so tief in Falten, dass man glauben könnte, sie besäße eine Miniaturausgabe des Grand Canyon auf der Stirn. Und ihre grau-grünen Augen funkelten durch die Brille, als wollte sie sich am liebsten wie eine Furie auf einen stürzen. Zu mir war sie meistens freundlich. Selbst wenn sie einen schlechten Tag hatte. Wenn sie aber doch einmal ihren Frust an mir ausließ, kam sie spätestens einen Tag darauf irgendwann zu mir und entschuldigte sich. Ich mochte sie sehr gerne.
Professorin Sinner wischte sich mit ihren Taschentuch einige Schweißperlen von der Stirn: "Guten Morgen, liebe Studenten." Sie warf mir einen Blick zu, den ich mit einem Lächeln erwiderte. Sie nickte und lächelte ebenfalls. Dann begann eine Vorlesung über das Skelett des Menschen. Ich hatte zwar keine Ahnung, was das mit Psychologie zu tun hatte, aber es gehörte zur Anatomie nun einmal mit dazu. So musste ich es ertragen. Das war bei Professorin Sinner gar nicht schwer, denn sie brachte den Lehrstoff witzig und interessant herüber. Man könnte sagen, sie war das komplette Gegenteil von Professor Rudolphus...
Als die Vorlesung endete wusste ich, dass der Mensch in etwa 206 Knochen besitzt. Das war zwar für mich eigentlich uninteressant gewesen, doch Professorin Sinner hatte es mit Witz herüber gebracht - und genau das liebte ich!
Ich packte meine Sachen zusammen und verließ gerade den Saal, da hörte ich eine Stimme, die mich zusammenzucken ließ: "Ah, Miss Pawlow! Wie ich sehe, geht es Ihnen wieder deutlich besser! Das freut mich!" Ich drehte mich um und hätte fast einen Satz nach hinten gemacht...

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University Lovestory
FanfictionIrene Pawlow studiert Medizin an einer Universität in Baltimore. Eines Tages trifft sie dort auf Dr. Hannibal Lecter als ihren Gastdozenten - mit fatalen Folgen.