Kühle Morgenluft strich mir scharf wie ein Messer über das Gesicht. Ich zog mir den Schal noch etwas enger an den Hals, damit auch wirklich kaum etwas dieser scharfen Kälte meinen empfindlichen Hals erreichte. Dann schloss ich noch den obersten Knopf meines Mantels. Das war ungewöhnlich für mich, weil ich diesen Knopf normalerweise grundsätzlich offen ließ. Ich bekam sonst immer das Gefühl, in meiner Freiheit eingeschränkt zu sein. Aber heute pfiff ich darauf! Es war einfach zu kalt!
In letzter Zeit war wirklich viel passiert. Ich rief mir alles noch einmal in den Sinn: Der letzte Monat war voll mit Befragungen, Gerichtsterminen und Nervenzusammenbrüchen. Ich war von einem zum nächsten gehetzt worden, dutzende von Fragen wurden mir gestellt. Fragen zu genau einem Thema - Wer war der Chesapeake Ripper und in welcher Verbindung stand ich mit ihm.
Diese Fragen hatten mich verändert. Allgemein diese Erfahrungen des letzten Monats hatten mich verändert. Ich hätte es wissen müssen! Ich hätte es von Anfang an wissen müssen! Aber nein, ich musste mich ihm hingeben. Diesem Mann mit den vielen Geheimnissen und den Augen, so blau und kalt wie das Eis...Endlich erreichte ich mein Ziel: Das Baltimorer State Hospital. Nun, nach einem ganzen Monat, würde ich ihn wiedersehen. Hannibal, der Mann von dem ich gedacht hatte, dass ich ihn für immer halten dürfte. Nun endlich durfte ich ihm wieder gegenüber treten. Allerdings wusste ich diesmal nicht so recht, ob ich dies überstehen würde. Es würde keinesfalls wieder so werden wie beim letzten Mal. Nein, dieses Mal würde es anders ablaufen, viel kälter. Ich wusste nicht, wieso, aber genau diese Erkenntnis machte mir irgendwie Angst. Es war nicht die Umgebung, nicht diese kalten Mauern oder die Leute, die ich gleich treffen würde. Es war einzig und allein der Gedanke an Hannibals eiskalte blaue Augen und deren starren Blick, der mich das Fürchten lehrte.
In dem Gebäude roch es muffig. Aus vielen Richtungen drangen Schreie an mein Ohr, gepaart mit hektischen Fußschritten von Pflegern, die an mir vorbei hasteten. Schreie von Insassen. Ich sah mich gerade um, da trat mir auch schon ein Mann mittleren Alters gegenüber. Seine Haare glänzten und an einigen Stellen verfingen sich Staubpartikel darin. Tiefe Falten überzogen seine Stirn und seine Augen blitzten auf, als er mich in seine Sicht zog: "Guten Tag, Ma'am. Mein Name ist Dr. Frederick Chilton. Ich bin der Leiter dieser Anstalt. Haben Sie sich verlaufen oder kann ich etwas für Sie tun?" Bei dem Klang seiner Stimme lief mir ein unangenehmer Schauer über den Rücken. Er klang sichtlich gereizt - Im Allgemeinen wirkte er auf mich nicht sonderlich sympathisch. Dennoch zwang ich mich zur Höflichkeit: "Guten Tag, Dr. Chilton. Mein Name ist Irene Pawlow. Ich hätte zu gern einmal einen Ihrer Insassen gesprochen..." Plötzlich schnippte er vor meinem Gesicht mit den Fingern: "Kommen Sie mal bitte mit.", murmelte er mit funkelnden Augen und machte eine rasche Geste mit der Hand. Mit gerunzelter Stirn folgte ich ihm unschlüssig. Ich wusste nicht, warum, aber ich konnte diesen Mann aus Prinzip nicht ausstehen.
In seinem Büro war es noch staubiger als auf dem Flur der Anstalt selbst. Auf seinem großen Schreibtisch lagen zahlreiche Akten und lose Blätter, nur ein Sonnenstrahl durch das mickrige Fenster spendete Licht. Die weitere Einrichtung schien bloß zusammengewürfelt - Er hatte sichtlich keinen Geschmack für passendes Mobeliar. Murmelnd schob der Anstaltsleiter einige Akten zur Seite und gab somit eine Zeitung frei. Es handelte sich hierbei um den National Tattler, wie ich mit zusammengekniffenen Augen feststellen musste. Kurz musterte der Doktor mich, dann blätterte er wie wild durch die Seiten, bis plötzlich sein Zeigefinger auf einem Bild liegen blieb. Mit glitzernden Augen, die denen eines Entdeckers ähnelten, rief er triumphierend: "Ich wusste es! Sie sind die Kleine von Dr. Hannibal Lecter! Ich habe von Ihnen gelesen, Miss...?" "Pawlow, Dr. Chilton. Mein Name lautet nach wie vor Irene Pawlow. Ja, ich bin die "Kleine" von Dr. Lecter." Es war mir mittlerweile völlig fremd, Hannibal wieder zu betiteln. Ich musste mich zusammenreißen, um nicht erneut in Tränen auszubrechen: "Könnte... ich ihn denn nun kurz sprechen, Sir?" Dr. Chiltons Blick wurde gleichgültig: "Dr. Lecter ist bisher unser schwierigster Fall, müssen Sie wissen. Eigentlich hat bis jetzt so ziemlich jeder Insasse erfolgreich mit uns kooperiert, der Chesapeake Ripper dagegen weigert sich allerdings auf sämtlichen Ebenen. Ich habe das Gefühl, dass er mich hasst." Ich verstehe nicht, warum, dachte ich ironisch und verdrehte innerlich die Augen.
Schließlich ging Dr. Chilton um seinen Schreibtisch herum und musterte mich erneut, diesmal noch intensiver: "Darf ich fragen, warum Sie ihn so dringend sprechen wollen, Miss Pahloft?" "Pawlow, Dr. Chilton. P-A-W-L-O-W... Nun, ich hätte zu gerne von ihm einige Antworten, die ich bis heute noch nicht bekommen habe. Immerhin hat er mir eine gewisse seiner vielen Facetten verschwiegen und ich denke, dass ich ein Recht auf Klarheit habe.", erklärte ich. Mit diesen Worten kam wieder Wut in mir hoch. Ich war tatsächlich mehr als nur wütend auf Hannibal. Wütend und verletzt...
Dr. Chilton zuckte mit den Augenbrauen, dann nickte er endlich: "Na ja, gut, das kann ich Ihnen nicht verübeln. Dann kommen Sie mal mit, ich bringe Sie zu ihm." Er eilte an mir vorbei über den Flur zu einer Treppe. Ich folgte ihm schnell und horchte nebenbei seiner kurzen Einweisung: "Berühren Sie nicht die Glasscheibe. Keine spitzen oder scharfen Gegenstände in seiner Zelle, reichen Sie ihm bloß weiches Papier, wenn überhaupt. Er hat eigene Stifte in seiner Zelle, wenn er Ihnen etwas geben möchte, nehmen Sie es nicht an, verstanden?" "Schon verstanden, Dr. Chilton.", murmelte ich. Nun musste ich mich noch mehr zusammenreißen, um nicht schreiend die Flucht zu ergreifen. Gleich würde ich ihn wiedersehen. Ob er mich wieder so eiskalt ansehen würde? Insgeheim hoffte ich, dass in seinem Blick wieder die Wärme und Liebe zu finden waren wie immer. Doch dann musste ich einmal mehr feststellen, dass diese Blicke vielleicht niemals wirklich ernst gemeint waren. Eine der Fragen, die ich ihm unbedingt stellen musste.
Schließlich standen wir vor einer Gittertür. Hinter dieser verbarg sich ein weiterer dunkler Flur. Dr. Chilton wandte sich an einen großen Pfleger mit dunkler Haut: "Wenn sie fertig ist, bringen Sie sie raus." Damit drehte er sich auf den Hacken um und schritt wieder nach oben. Mit mulmigem Gefühl sah ich zu dem großen Pfleger hoch, der mich sanft anlächelte: "Guten Tag, ich bin Barney." "Irene Pawlow, guten Tag." "Nett, Sie kennenzulernen, Irene. Was kann ich für Sie tun?" Er hatte eine sanfte Stimme. Allgemein war sein Auftreten eher sanft, wodurch er mir sofort sympathisch war. Ganz im Gegensatz zu Dr. Chilton, von dem ich hoffte, ihn niemals wiederzusehen.
Ich zwang mich innerlich zur Ruhe: "Ich würde gern mit Dr. Lecter sprechen." Barney nickte: "Sie wissen, Sie dürfen sich nicht der Glasscheibe nähern?" Nun war ich diejenige, die nickte und er öffnete die Gittertür: "Vorbei an den anderen zur letzten Zelle. Halten Sie sich möglichst rechts. Ihnen wird nichts passieren, dafür sorge ich, versprochen." Was sollte mir denn auch passieren, fragte ich im Stillen. Hannibal würde wohl kaum eine Glasscheibe einschlagen, oder?
Ich atmete kurz tief durch und schritt über den Flur, die anderen Insassen komplett ignorierend. Mich interessierte das kalte Licht, welches am Ende den Flur erhellte. Vermutlich drang dieses aus Hannibals Zelle. Er hatte wohl einen sehr guten Anwalt, um seine Privilegien durchzusetzen, dachte ich und ging weiter. Endlich erreichte ich mein Ziel und kam vor besagter Glasscheibe zum Stehen. Mein Herz krampfte sich leicht zusammen, als ich schnell den minimalen Raum mit schlichter Ausstattung inspizierte. Auch wenn er der Chesapeake Ripper war, so tat es mir Leid, Hannibal so eingeschränkt zu sehen. Schließlich fiel mein Blick auf ihn. Er lag ruhig auf einer kleinen Pritsche, die Hände auf dem Bauch gefaltet und hob nicht einmal den Kopf. Dennoch wusste er, dass ich da war: "Ich hätte nicht erwartet, dass du mich so schnell besuchen kommst, Irene.", sagte er, blieb aber regungslos liegen. Wie hatte er das jetzt gemacht? Ich wollte ihn gerade fragen, da erklärte er bereits: "Meine Nase ist nicht gerade schlecht. Außerdem würde ich deinen Duft immer sofort erkennen. Dazu haben dich deine Schritte verraten." "Wie geht es dir, Hannibal?", fragte ich nun. Ich versuchte, mir mein Mitleid nicht anmerken zu lassen und hielt meinen Ton sehr neutral. Hannibal regte sich immer noch nicht: "Ich muss gestehen, dass ich mich schon nach einem Monat ziemlich langweile, Irene. Mir fehlt deine Gesellschaft und meine Freiheit..." "Das hast du dir selbst zuzuschreiben.", unterbrach ich ihn und endlich zeigte er Regung. Er setzte sich aufrecht und sah mich an: "Ist dem so?" "Natürlich! Hättest du nicht gemordet, würdest du auch nicht hier sitzen." Er erhob sich, anmutig wie immer. Selbst in dieser erniedrigenden Zelle und der Anstaltskleidung behielt er seine stattliche Präsenz. Obwohl ich glaube, dass es eigentlich nichts auf dieser Welt gab, welches diese Präsenz auch nur ankratzen könnte.
Er musterte mich: "Du hast sicherlich Fragen. Ich denke kaum, dass du dich einzig und allein nach meinem Wohlergehen erkundigen wolltest. Nicht wahr, Irene?" Nun war es so weit. Der Moment, vor dem ich solche Panik hatte. Wie würde es ausgehen?
Ich schluckte meine Angst hinunter und fragte schließlich: "Warum... hast du diese Leute umgebracht, Hannibal? Sie waren doch allesamt unschuldig." Seine Mundwinkel zuckten amüsiert. War er im ernst amüsiert über diese Frage? Wieder stieg Wut in mir hoch: "Findest du das etwa witzig?" "Nein. Aber diese Menschen waren nicht unschuldig." "Was haben sie denn getan?" In seinem Blick las ich nun pure Verachtung: "Sie waren unhöflich. Weiter werde ich nicht darauf eingehen, denn das würdest du nicht nachvollziehen können. Sagen wir - Ich hatte meine Gründe dafür." Mehr sagte er nicht dazu. Unhöflich?! Das war sein einziger Beweggrund für solch abscheuliche Taten?! Unhöflichkeit?!? Ich starrte ihn schockiert an: "Das... ist nicht dein Ernst, Hannibal..." "Doch, Irene. Voll und ganz." "Und... Was ist mit mir? Mit uns? War dir das überhaupt von Bedeutung? Oder... war ich nur zu deiner Tarnung?" Ich kämpfte mit den Tränen. Was für ein Monster hatte ich da eigentlich vor mir? Er neigte leicht den Kopf: "Nein, Irene. Die Entscheidung, als Gastdozent an deiner Universität zu fungieren, diente als Tarnung. Doch als ich dann dich traf, da änderte sich alles." Ich senkte kurz den Blick: "Wieso kann ich dir das nicht glauben?" "Das ist verständlich. Jedoch kann ich es dir nur sagen, wie es ist. Ob du mir glaubst, musst du selbst entscheiden." Ich schluckte. Mehr konnte ich nicht ertragen! Ich murmelte: "Ich glaube, ich habe jetzt alles, was ich wissen wollte, erfahren. Ich denke nicht, dass wir diese Konversation noch weiter auf persönlicher Ebene führen sollten. Ich danke Ihnen, Dr. Lecter." Ich wendete mich ab und drehte ihm den Rücken zu: "Können Sie überhaupt noch ohne mich leben, Miss Pawlow?" Wie zu erwarten reagierte er sofort auf den Wechsel zur formellen Anrede. Ich sah ihn nicht mehr an, sondern versteckte meine Enttäuschung: "Was man nicht kann, das lernt man. Vorher konnte ich ja auch ohne Sie leben. Ich muss jetzt gehen, Doktor. Wir werden uns wohl nicht noch einmal sehen, daher wünsche ich Ihnen noch ein angenehmes Leben." Dann drehte ich mich doch noch ein letztes Mal zu ihm um, doch er hatte nun mir den Rücken zugedreht und blätterte bereits mit gewissem Interesse in einem Buch. Er registrierte mich nur noch einmal kurz mit einem Seitenblick: "Gut, Miss Pawlow. Es ist wohl besser, wenn Sie jetzt gehen. Wir wollen ja nicht, dass Sie auch hier enden." Diese Kälte, die von ihm ausging, traf mich zutiefst. Aber ich durfte nun nicht schwach wirken: "Keine Sorge, Doktor - Das werde ich nicht zulassen. Leben Sie wohl." Die letzten Worte blieben mir fast im Hals stecken, daher rannte ich regelrecht aus diesem Höllentrakt und ließ die letzten fünf Monate hinter mir. Zumindest hoffte ich, sie irgendwann hinter mir lassen zu können...

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University Lovestory
FanfictionIrene Pawlow studiert Medizin an einer Universität in Baltimore. Eines Tages trifft sie dort auf Dr. Hannibal Lecter als ihren Gastdozenten - mit fatalen Folgen.