10.

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Ich sah ihr noch lange hinterher, ließ meinen Blick sich in ihren Rücken bohren. Sie war anders als die anderen! Das hatte ich von Anfang an gespürt! Ihr Sinn für die Ästhetik, ihre Ausdrucksweise - Als wäre sie aus einer anderen Zeit. Als wäre sie aus meiner Zeit.
Ich schloss die Tür und seufzte. Was war bloß los mit mir? Warum hegte ich ein solches Interesse für sie? Was machte sie denn so besonders? Ich schüttelte den Kopf: "Reiß dich zusammen, Hannibal!", murmelte ich. "Sie ist zum ersten deine Studentin, zum zweiten bist du mindestens doppelt so alt wie sie! Sie ist tabu für dich!" Ich schlenderte in die Küche. Mein Blick fiel auf ihr Glas, welches dort immer noch auf dem Schrank stand. Ich konnte noch den Abdruck erkennen, den ihre Lippen hinterlassen hatten. Ich nahm mir eine Flasche Wein und füllte etwas der tiefroten Flüssigkeit in das Glas. Ich führte es zu meinem Mund und als meine Lippen das kalte Glas berührten, da spürte ich, dass mein Herz schneller schlug. War ich jetzt komplett verrückt geworden?! Ich stellte das Glas weg. Ich starrte es noch eine gewisse Zeit an, als mich die Türklingel aus den Gedanken - oder waren es sogar Träumereien? - zurück in die Realität holte. Ich ging zur Tür und öffnete. Ein junger Mann mit strohblondem Haar und kobaltblauen Augen blickte mir freundlich entgegen: "Ah, Dr. Lecter, ich bin froh, dass ich Sie hier antreffe. Ich hoffe, ich störe nicht?" "Special Agent Graham, welche Freude, Sie zu sehen. Bitte, kommen Sie doch herein. Sie stören überhaupt nicht." Er nickte lächelnd und folgte mir ins Haus. Ich schloss die Tür: "Die Schuhe können Sie ruhig anlassen, falls Sie möchten. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Hatten Sie überhaupt schon etwas zu Mittag?" "Um ehrlich zu sein, nein, Doktor. Es gibt da etwas, das mir den Appetit verdorben hat." "Dennoch müssen Sie etwas zu sich nehmen. Folgen Sie mir in die Küche, ich mache Ihnen etwas. Und nebenbei können Sie mir den Grund Ihres Besuchs nennen. Ich hatte nämlich ehrlich gesagt nicht mit Ihnen gerechnet." "Ich habe spontan entschieden, Sie aufzusuchen. Es hat sich etwas neues zu unserem Fall ergeben." "Ah, ja, der Chesapeake Ripper. Ich entsinne mich. Was, beziehungsweise wen hat er denn dieses Mal auf dem Gewissen?" "Nun ja, momentan wissen wir noch nichts genaues. Aber der Flötist des Baltimorer Sinfonie-Orchesters wird vermisst." Ach, dachte ich und musste ein Lächeln unterdrücken. Was du nicht sagst, mein lieber Will:
"Benjamin Raspail. Ich habe erst heute morgen von ihm im National Tattler gelesen." "Genau der, Doktor. Seit seinem letzten Konzert wird er vermisst. Wir vermuten, dass er direkt an diesem Abend gekidnappt wurde." "Aber warum gerade er?" "Wir tappen komplett im Dunkeln. Es besteht überhaupt keine Verbindung zwischen seinen Opfern, er scheint sie willkürlich auszuwählen. Deshalb bin ich hier. Ich dachte, vielleicht könnten Sie mir helfen. Sie als bester Psychiater in ganz Maryland." "Oh, Will, jetzt schmeicheln Sie mir aber." Ich schenkte ihm ein Lächeln, dann beugte ich mich zum Kühlschrank und wühlte darin herum. Mir stach die Tüte mit dem Fleisch ins Auge, doch das konnte ich Will nicht vorsetzen. Nicht jetzt.
Ich fragte: "Mögen Sie Omelett?" "Wie kommen Sie denn jetzt...? Oh, ähm... Ich möchte keine Umstände machen, Doktor!" "Ich bitte Sie, das macht doch keine Umstände! Ein Omelett ist schnell gemacht und wie ich bereits sagte: Sie müssen etwas zu sich nehmen. Anweisung des Doktors!" Er lachte: "Nun gut, dann ein Omelett." Ich griff nach der Packung Eier und stellte sie auf die Arbeitsplatte. Neben dem Messerblock stand der kleine Tontopf mit dem Schnittlauch, den ich vor einiger Zeit gepflanzt hatte. Ich betrachtete ihn lange, dann pflückte ich vorsichtig einige Stängel, wohl bedacht, die anderen nicht zu verletzen. Mit dem Beil zerhackte ich die Stängel und warf einen kurzen Blick zu Will, der mich beobachtete: "Doktor, ich möchte nicht aufdringlich sein, aber mich interessiert, wer Sie gerade vor mir besucht hat. Würden Sie es mir sagen?" Ich richtete meinen Blick fest auf den Schnittlauch. Unbemerkt festigte sich mein Griff um das Beil, als ich antworte: "Das... Das war Irene Pawlow. Sie ist meine Studentin." Ich hörte, wie er sich am Kopf kratze. Seine Stimme hatte etwas nachdenkliches: "Ach ja, Sie sind ja jetzt Gastdozent." Nun verlieh er seiner Stimme Humor: "Ich dachte, Gastdozenten laden ihre Studenten nicht zu sich nach Hause ein?!" Nun sah ich ihn an: "Ich habe ihr versprochen, am Samstag mit ihr den Stoff durchzugehen, den sie die letzte Woche verpasst hat. Bald stehen wieder Prüfungen an und ich möchte nicht, dass sie wegen mir durchfällt." Will grinste immer breiter: "Wegen Ihnen? Haben Sie ihr etwa schöne Augen gemacht?" "Wenn, dann allerdings nicht mit Absicht!", rechtfertigte ich mich. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter: "Im gewissen Maße kann ich die Kleine verstehen." Ich hob die Augenbrauen: "Mein lieber Will - Muss ich mir Sorgen um Sie machen?" Er lachte: "Nein, wo denken Sie hin?! Ich habe lediglich versucht, mich in das Mädchen hineinzuversetzen." "Was bei Ihrer Empathie kein Problem darstellen sollte." "Mhm... ja. Und wenn ich Sie mal aus ihren Augen betrachte - Verstehen Sie mich nicht falsch! - Ich kann sie wirklich verstehen. Sie sind höflich, charmant und haben den gewissen Sinn für Humor. Und Sie haben mir doch mal erzählt, dass die Frauen früher schon immer ganz begeistert von Ihnen waren." "Ja, die Frauen früher. Früher ist nicht heute, Will!" "Vielleicht... aber vielleicht steht sie ja nicht auf die Typen von heute?" Ich ließ das Ei in die Pfanne gleiten und gab Schnittlauch, etwas Salz und ein bisschen Pfeffer dazu. Es dauerte gar nicht lange, da konnte ich es auch schon anrichten: "Also, Will, wenn Sie bitte dort drüben am Tisch Platz nehmen würden?" Ich sah keinen Grund, weiter über Miss Pawlow zu diskutieren. Ich verstand nicht einmal, warum ich mich überhaupt darauf eingelassen hatte.
Ich stellte ihm den Teller mit dem Omelett vor die Nase: "Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?" "Höchstens ein Glas Wasser. Sie tun schon wieder viel zu viel für mich, Doktor!" "Aber nein, das gehört sich so! Warten Sie eben..." Ich tigerte zum Schrank und nahm mir ein Glas. Und mit der großen Karaffe Wasser ging ich wieder zu ihm. Ich schenkte ihm ein, während er das Essen probierte: "Dr. Lecter... also ich muss schon sagen... Sie sind ein ausgezeichneter Koch! Ich beneide Sie richtig!" Ich zuckte nur mit den Schultern. Dann setzte ich mich zu ihm: "Gut, dann erzählen Sie mal, was Sie bisher so haben." "Nichts, das ist ja das Problem!" Ich runzelte die Stirn: "Das kann doch nicht sein. Irgendetwas müssen Sie doch gefunden haben! Vor allem Sie, Will!" Er schüttelte nur den Kopf: "Gut, lassen Sie sich Zeit und essen Sie erst einmal auf. Wir klären das Ganze gleich in meinem Arbeitszimmer." Ich sah aus dem Fenster. Ich dachte wieder an Miss Pawlow, ließ die Zeit mit ihr noch einmal Revue passieren. Ihr Lachen hallte immer noch in meinem Ohr. Dieses Lachen, so hell und klar wie die Glocken des Doms von Belvedere. Ich musste schmunzeln. Florenz war wirklich eine schöne Stadt! Irgendwann musste ich noch einmal dahin!
Ein Räuspern riss mich aus den Gedanken: "Dr. Lecter, Sie scheinen abwesend." "Was? Ich... Verzeihung. Ich war so in Gedanken." "In Gedanken bei der Studentin?" Ich blinzelte. Seit wann war ich so leicht zu durchschauen?! Ich antwortete: "Hauptsächlich war ich mit den Gedanken in Florenz." "Eine wirklich schöne Stadt. So kunstvoll! Ich glaube, ich werde dort bald mal mit Molly Urlaub machen!" Ich sah ihn an: "Molly... Wie geht es ihr? Und dem kleinen Josh?" "Er entwickelt sich prächtig! Er hat gestern seine ersten Schritte gemacht!" Wills Brust schwellte an voller Stolz. Ich musste schmunzeln: "Das freut mich zu hören." Er grinste und schob sich die letzte Gabel voller Ei in den Mund. Ich nahm den Teller und stand auf, um ihn zur Spüle zu tragen. Ich sagte über die Schulter: "Gehen Sie schon einmal vor, ich komme sofort nach. Das Wasser können Sie gerne mitnehmen. Es ist recht heiß, heute." Ich hörte ihn davongehen und sah zum Messerblock. Ich neigte leicht den Kopf. Sollte ich es tun? Oder wollte ich noch warten? Es war eigentlich ganz lustig, ihn so im Dunkeln zu lassen. Sicher, ich würde ihm etwas helfen müssen. Aber nicht zu viel!
Also ließ ich die Messer an ihrem Platz und schlenderte ins Arbeitszimmer. Will hatte schon in dem Stuhl vor meinem Schreibtisch Platz genommen und schien mich zu erwarten. Ich nahm in meinem Sessel Platz und fragte erneut: "Also, was haben wir an Input?" Er nahm sich seine Umhängetasche, die mir bis dahin noch gar nicht wirklich aufgefallen war, und reichte mir eine Akte: "Das sind die Opfer. Mehr wissen wir nicht. Sie scheinen nur eine Parallele zu haben: Die hatten alle mit der Oberschicht zu tun, wenn Sie verstehen, was ich meine?" "Ich verstehe zu gut." Ich blätterte etwas in der Akte, tat so, als würde ich lesen. Ich kannte die Opfer alle. Manche nur flüchtig, aber immerhin.
Der junge Special Agent sah mich erwartungsvoll an: "Und? Fällt Ihnen irgendetwas auf?" "Bis auf das Willkürliche nicht, nein. Was ergaben denn die Autopsieberichte?" "Jedem Opfer fehlte ein Teil der Innereien. Benjamin Raspail gilt immer noch als vermisst, aber dem fehlt bestimmt auch schon etwas." "Was denken Sie, warum fehlen den Opfern Innereien?" "Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass die Schnitte wirklich präzise waren." "Also scheint er gute anatomische Kenntnisse zu haben?" Er nickte: "Davon gehe ich gerade aus, ja." Ich überlegte: "Vielleicht sollten Sie noch einmal Ärzte oder sogar Arzthelfer unter die Lupe nehmen. Vielleicht wurde einer gefeuert und möchte sich so rächen." "Gar keine schlechte Idee, Doktor." Er richtete sich auf, ich reichte ihm die Akte, die er in seine Tasche stopfte. Ich fragte: "Wollen Sie gehen?" "Ich denke ja. Ich muss noch etwas einkaufen und dann mal bei den Ärzten nachsehen." Ich grinste: "Grüßen Sie Molly und den kleinen Josh von mir." "Aber klar, Dr. Lecter. Und noch einmal vielen Dank für das Essen und Ihre Zeit." "Es war mir wie immer ein Vergnügen." Ich brachte ihn zur Tür: "Also dann, Will. Sollte sich noch etwas ergeben..." "Dann werde ich Sie es wissen lassen. Versprochen!" Ich lächelte: "Gut, dann bis bald." "Bis bald, Doktor." Er ging davon. Ich schloss die Tür: "Nun wird er erstmal wieder zu tun haben! Und ich kann mich anderen Dingen widmen..." Miss Pawlow kam mir in den Sinn und ein Grinsen breitete sich auf meinem Gesicht aus. Ich hatte noch so einiges mit ihr vor! Sie wusste es nur noch nicht...

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