2. Kapitel

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Mara starrte ihn an. Maurice ignorierte es und marschierte einfach weiter.
"Wohin gehen wir?", fragte sie und blieb plötzlich stehen, die Arme trotzig vor der Brust verschränkt wie ein kleines Kind.
"Keine Ahnung", erwiderte er wahrheitsgetreu.
Er wollte sie in eine Wohnung lotsen. Preferablerweise nicht seine eigene oder die von Niko, Sinan oder Tarik. Ja, er wollte Sex, aber zu dem faszinierte sie ihn; ihr Aussehen, ihre ganze Art ... Er wollte sie um ihre Nummer bitten. Der Gedanke, Mara nie wieder zu sehen nach dieser Nacht, erschien Maurice auf einmal lächerlich.

"Ich gehe keinen Schritt weiter, solange ich nicht weiß, wohin."
Verärgert drehte er sich wieder um, denn er war weiter gelaufen. Frauen folgten ihm, erst recht die, die auf Konzerten in der ersten Reihe standen und alle Texte auswendig kannten.
"Ruppiner Straße, das ist in der Nähe der U8", entschied er. Ein alter Kumpel von ihm wohnte dort in einer WG.
"Das ist aber keine Haltestelle der U8." Mara wohnte in Berlin, sie wusste es genau und wollte sicher gehen, dass Maurice sie nicht zum Narren hielt. Ja, auch sie wollte Sex, wer konnte es ihr verdenken? Genauso gerne wollte sie aber auch wieder heil aus der Sache rauskommen.
"Bernauer Straße wäre die zugehörige Station. Dauert nicht lange von dort aus, was sind das? Fünfhundert Meter? Jetzt los, Fräulein, nicht so schüchtern."
Er trat auf sie zu und in Maras Bauch begannen die Schmetterlinge Tango zu tanzen. Sie war nicht verliebt, aber angetan war sie schon von seiner Person.

Wieder standen sie einander gegenüber, ganz nah. Mara war der Meinung, die Spannung zwischen ihnen surren hören zu können. Vielleicht war es aber auch nur ihr rasendes Herz, dass sie wahrnahm.
Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn.
Maurice hatte nicht damit gerechnet. Die Kleine hat ja wirklich Mumm, dachte er. Mara forderte nichts ein mit ihrer Zärtlichkeit, wie die Groupies, mit denen er geschlafen hatte. Er fand, es war als wolle sie etwas austesten. Dann stoppte sie und rollte mit der gesamten Fußsohle wieder auf den Boden.
"Das war schön", sagte sie.
Damit überrumpelte sie ihn zum wievielten Mal an diesem Abend? Es war egal, Maurice hatte aufgehört zu zählen.
"Machst du auch mal was Vorhersehbares?", fragte er interessiert.
"Leute verwirren", grinste sie. "Zum Beispiel dich."
Ruhig beugte er sich zu ihr und küsste sie von sich aus. Es traf Mara unvorbereitet.
"Leute verwirren ist auch eine meiner Spezialitäten", flüsterte er und sie konnte seine Lippen noch immer an ihren spüren, weil er keinen Millimeter zurückgewichen war.
"Suchst du schon nach Gemeinsamkeiten?", fragte sie, ohne den Abstand zwischen ihnen zu verringern.
"Ja", antwortete er und wunderte sich wie viel Wahrheit in diesem einen Wort steckte.
Maurice wollte selten ein weibliches Wesen näher kennenlernen. Viele von ihnen verstanden seinen Humor nicht oder fanden ihn zu schräg. Maurice vertrat im Gegenzug die Ansicht, dass die meisten Frauen nicht viel taugten. Auf Partys hatte er mit einer handvoll gesprochen. Sie waren alle willens gewesen, mit ihm das Bett zu teilen, aber den Rest seines Lebens hätte er mit keiner verbringen wollen.
Bei Mara war das anders. Wie sie da so an ihm lehnte, die Fingerspitzen auf seine Brust gestützt, ertappte er sich augenblicklich beim unterbewussten Ausdenken von Kindernamen. Das war natürlich vollkommen übertrieben, er wusste das, aber er konnte nichts dagegen ausrichten. Kaum waren die Kindernamen passé, drängte sich ein Bild in seinen Kopf, dass Mara und ihn auf einer Hollywoodschaukel in sechzig Jahren illustrierte.

Sie räusperte sich. Maurice war seit einer halben Minute geistig abwesend und sein verlorener Blick bereitete Mara Sorge, ob etwas nicht stimmte.
"Wir haben doch beide noch was vor heute Abend, oder?", fragte sie neugierig.
Maurice grinste dreckig, um sich davon abzulenken, dass ihm seine Gedanken peinlich waren. "Der Bus kommt bald. Wir wären schon da, wenn diese gewisse einzelne Dame nicht darauf bestanden hätte, unser Tempo mit ihren kühnen Aktionen mutwillig zu bremsen."
"Nicht zu vergessen dieser gewisse einzelne Herr, der sich freiwillig darauf eingelassen und alles noch weiter entschleunigt hat."
Mara konnte ihm problemlos Paroli bieten, was sie nie geahnt hätte. Sie war eigentlich nicht besonders schlagfertig, aber bei Maurice schienen ihr endlose Gespräche nicht mehr wie ein Ding der Unmöglichkeit.
Er lachte, offen und ehrlich. Es war kein Lachen, wie das, dass er in den Interviews zum Besten gab, nicht so tief ironisch und Mara fand, dass es wohl das schönste Lachen war, dass sie je gehört hatte. War sie ernsthaft dabei, sich in Maurice zu verlieben? Den Rapper, der Teil ihrer absoluten Lieblingsband war? Dessen Ausstrahlung ihre Knie immer wieder in Wackelpudding verwandelte? Und wenn es so war, war das etwas Positives?

Sie spazierten Seite an Seite durch die Dunkelheit und die verlassenen Straßen; beide jagten sie ihren jeweiligen Gedanken hinterher.
Maurice griff nach Maras Hand. Er bemerkte es gar nicht, sein Unterbewusstsein hatte erneut übernommen, aber Mara bemerkte es sehr wohl. Sie kämpfte gegen den Drang zu zucken, denn sie wollte nicht, dass er los ließ. Sie zwang sich normal zu atmen und malte sich aus, was wohl geschehen würde, wenn nun ihre Hand zu schwitzen anfing. Die Geste war so romantisch und doch irgendwie passend.
Als sie einstiegen, sah Maurice, was passiert war. Lächelnd betrachtete er ihre ineinander verschränkten Finger.
Mara tat so, als hätte sie nichts mitbekommen und zeigte stumm ihre Fahrkarte vor.

"Also, Mara Jasephin Plinta, was machst du so?", fragte Maurice entspannt. Er lungerte in seinem Sitz wie eine Katze vor dem Kamin.
"Mara reicht aus", begann sie. "Hauptsächlich höre ich eure Musik und besprühe dazu Wände."
Fragend legte er die Stirn in Falten. "Was war das Letzte?"
"Ich bin Sprayerin. Du weißt schon, eine von diesen unverschämten Gören, die illegal Mauern mit Graffiti beschmieren." Mara lachte nervös. Sie ging noch zur Schule, aber wenn Maurice davon erfuhr, würde er sie garantiert abschießen und Sprayerin war sie zwar nicht von Beruf, aber aus Berufung. Sie hoffte inständig, er würde glauben, sie verdiene so ihr Geld.
"Vandalismus. Gefällt mir", sagte Maurice.
"Oder Kunst. Eine Frage der Perspektive", widersprach sie.
"Alles ist eine Frage der Perspektive", stellte er nüchtern fest.
"Dementsprechend auch, was Vandalismus und was Kunst ist."
Maurice nickte. Mara war mit Abstand das klügste Mädchen, das ihm in den letzten vier Jahren über den Weg gelaufen war.

Gott, ihr Körper, dachte er hingerissen. Ihre Figur war ausgeglichen proportioniert, aber kurvig gebaut; keine Barbie und trotzdem bezaubernd.
Mara ging es nicht anders. Sie hatte Maurice bereits in Tourblogs bewundert und leckte sich unkontrollierbar über die Lippen, wenn ihre Augen wie von selbst seine unter dem Shirt verborgenen Bauchmuskeln fixierten. Dieser Typ ist so heiß, schwärmte sie innerlich.
Maurice war überzeugt, dass er sie stundenlang nur ansehen könnte. Sie war dezent geschminkt; er kannte sich nicht aus, aber er vermutete Rouge auf ihren Wangen, Gloss auf den Lippen und Mascara. Ihre Augenbrauen waren eher gerader und voll, was sie jünger wirken ließ und unschuldiger.

"Ruppiner Straße", ertönte es aus den Lautsprechern. Der Bus hielt und Mara und Maurice sprangen auf den leeren Bürgersteig.
Er führte sie zu einem hell gestrichenen Wohnblock und Mara fragte sich, welche Farbe er wohl haben mochte bei Tageslicht.
Maurice klingelte.
"Hallo?", meldete sich sein Kumpel.
"Na, Kurt", begrüßte ihn Maurice.
Das vertraute Summen erklang und Maurice hielt Mara die Tür auf.
"Du musst kein wahrer Gentleman sein, damit ich mit dir schlafe", sagte Mara.
Maurice lachte wieder. Dieses echte Lachen verursachte bei Mara eine angenehm kribbelnde Gänsehaut.
"Ich fasse das als Kompliment auf", sagte er.
"Das sollst du auch. Wohnt er so weit oben?" Mara erschauerte beim Anblick der vielen Treppen.
Maurice schlang beide Arme um ihre Taille und hob sie hoch. "Ihr seid doch alle gleich", sagte er frech. "Auf Händen soll man euch die Stufen hinauf und im Anschluss noch über die Schwelle tragen."
"Ja", erwiderte Mara schlicht und kicherte.
"Du meine Güte, was wiegst du?", keuchte er. "Eine Tonne?"
"Zwei."
"Sehr witzig."
Kurt öffnete und sie traten gemeinsam in den schwach beleuchteten Flur.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt