48. Kapitel

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Mara zitterte, obwohl Maurice sie festhielt. Sie saßen in einem Sprinter mit abgedunkelten Scheiben. Der bullige Einsatzleiter bildete einen scharfen Kontrast zum flachen Ultrabook, mit dem er das Polizeikommando koordinierte.
Nick und Leon hatten kein Essen in ihrem Kellerversteck. Deshalb der plötzliche Zugriff. Würden sie länger warten, würden beide verdursten und es gäbe zwei tote Zivilisten mehr in ihrer Statistik. Es ging ihnen nicht um Menschen, davon war Mara überzeugt.
Maurice drückte sie fester an sich und sie bekam Mitleid mit ihrer Mutter, die ganz allein an der Wand des Wagens kauerte.
"Habt ihr sie?", fragte der Einsatzleiter gierig. Dabei presste er sich das schwarze Headset näher ans Ohr.
Mit einem glücklichen Lächeln auf den Lippen drehte er sich zu ihnen um und hob beide Daumen.
Evelyn vergrub ihr Gesicht zwischen den Händen, sie weinte vor Erleichterung. Der Knoten, der sich in Maras Hals löste, befreite ihre Atmung. Die Angst um ihren kleinen Bruder hatte sich tatsächlich physisch auf sie ausgewirkt. Später erfuhr sie, dass ihre Lungen geprellt gewesen waren. Äußerst selten der Fall und niemand konnte erklären, wie es dazu kam, denn Mara hatte sich nicht mit anderen geprügelt und konnte sich ebenso wenig daran erinnern, gegen einen verletzenden Gegenstand gelaufen zu sein. Letztens hörte sie davon, dass Menschen bereits an gebrochenem Herzen gestorben waren. Dann waren metaphorisch geprellte Lungen wohl nicht abwegig.
Ein junger Polizist trug den geschwächten Leon ins Auto.
Evelyn umarmte ihn sofort, überprüfte gewissenhaft seine körperliche Verfassung. Er war dünn, aber nicht vollständig hager. Die dunklen Augenringe würden sich mit der Zeit verflüchtigen.
Mara schloss sich dem Gruppenkuscheln an, während Maurice ein wenig abseits wartete. Das war ein Familienmoment. Den wollte er nicht zerstören. Die unbändige Erleichterung, die er verspürte, machte ihm genug zu schaffen. Er hatte gar nicht realisiert, wie sehr ihm doch an Leon lag und wie froh er war, dass es ihm einigermaßen gut ging.
"Kommt Nick jetzt ins Gefängnis?", schluchzte der Kleine.
"Höchstwahrscheinlich", antwortete der Beamte, der ihn reingetragen hatte.
"Wo ist er?", fragte Mara mit erstickter Stimme.
"Er kommt in Untersuchungshaft", erwiderte der Einsatzleiter. "Das Gericht muss entscheiden, was mit ihm geschieht."
"Der Typ gehört hinter Gitter", sagte Maurice. Alle Blicke richteten sich auf ihn.
"Was?!", blaffte er. Sie sollten aufhören, ihn so anzustarren, das machte ihn nervös und aggressiv.
Mara bemerkte seine Unruhe. "Das finde ich auch", pflichtete sie ihm bei und nach und nach widmeten sich die Leute wieder ihren jeweiligen Beschäftigungen.
Man fuhr sie nach Neukölln und ließ erst dort alle aussteigen. Einer der Männer begleitete sie sogar bis vor die Tür.
"Jasi, bleibst du?", fragte Leon schniefend.
"Wenn du das möchtest, Hase."
Maurice gab ihr einen Kuss auf die Wange, dann wandte er sich ab und ging. Er wurde nicht mehr gebraucht.
Sie bekam seinen Arm zu fassen, wie bei dem Konzert damals, das alles veränderte.
Sanft zog sie ihn zu sich heran und küsste ihn inniglich.
Sie ließ ihn los, obwohl alles in ihr dagegen anschrie. Und Maurice ging ...
Er fuhr zu ihr, suchte im Internet nach Wohnungen, es war notwendig. Seit langem hatte er wieder Kontakt zu seinen Freunden, erzählte seinen Bandkameraden, was vorgefallen war. Und sie verstanden. Alle drei. Sagten, wenn Maurice sie liebte, war es das wert. Gaben ihm endlich die Bestätigung, auf die er nun seit acht Monaten gewartet hatte.
Er sah sich Wohnungen auf Webseiten an, die versprachen, genügend Platz für junge Familien zu bieten, in kinderfreundlicher Lage. Und verwarf die angepriesenen Stadtvillen sofort wieder. Irgendwann. Nicht heute.
Er kiffte einsam auf ihrem Balkon mit Ausblick auf die letzten mageren Streifen des Abendrots über den Dächern der gegenüberliegenden Häuserreihe.
Er ließ Musik laufen und so kamen ihm selbst Ideen für Musik und er schrieb sie auf, weil er wusste, dass aus den einzelnen, zusammenhanglosen Zeilen eines Tages Songs entstehen würden.
Maurice badete sogar. Ein Luxus, den er sich nur selten gönnte, doch ihm war danach und er nahm sich Maras Worte zu Herzen. Was sie gesagt hatte über den eigenen freien Willen und darüber, dass sich niemand diesem je ganz hingeben zu wollen schien.
Nachdem er sich lange Zeit ausgeruht hatte, ging es ihm tatsächlich besser. Er nahm die Dinge leichter. Es war, als hätte er seinen Körper verlassen und schwebte nun über sich selbst. Wer brauchte schon Meditation um inneren Frieden zu erreichen, wenn es doch eigentlich so einfach war?
Seine Gedanken kreisten um Mara; noch immer um die Idee des Zusammenziehens. Er wollte es, aber es wäre unklug, die Dinge mit ihr zu überstürzen, sie zu übergehen, indem er sie nach ihrer Meinung dazu fragte. So überstürzt, wie als er ihr den Heiratsantrag gemacht hatte, ohne Ring, gelehnt an einen Bauzaun.
Bald wäre sie neunzehn. Nur noch wenige Tage. Er glaubte nicht, dass das viel verändern würde. Sie wäre seinen Plänen vermutlich noch immer abgeneigt, was er verstehen konnte.
Andererseits war sie anders, tat kaum etwas, auf das Maurice vorbereitet war. Wenn er es ernst meinte, würde sie ja sagen? Sollte er es riskieren? Ein zweites Mal?
Er bemerkte, dass er unterbewusst nach Bildern von Verlobungsringen im Internet gesucht hatte. Schmunzelnd schloss er den Tab. Wenn das kein Zeichen war ...
Mara drückte Leon an sich. Sie saßen auf ihrem alten Bett, das morgen ein Nachbar abholen würde, der es gekauft hatte.
"Jetzt bin ich ganz allein", sagte Leon erstickt und dicke Tränen kullerten über seine Runden Wangen.
"So ein Quatsch. Du hast doch Mama. Und mich hast du auch immer, egal, wo ich bin, wenn du mich brauchst, werde ich da sein", tröstete sie ihn.
"Aber Edda ist tot."
Es war wie ein Schlag ins Gesicht. Mara strich ihm den langen Pony aus der Stirn und küsste ihn auf das schokoladenbraune Haar.
"Edda ist auch immer da. Wir können sie nicht mehr sehen, hören oder mit ihr sprechen. Aber wir können sie fühlen. Genau hier." Sie legte eine Hand auf Leons Herz. "Spürst du das?", fragte sie.
Er schüttelte traurig den Kopf.
"Dein Herz. Es pocht", erklärte sie ihm.
"Und das Pochen macht Edda?"
"Ganz genau. Sie ist da drin. Und sie wird es immer sein, bis du stirbst."
"Wie macht sie das Pochen?"
"Na, mit ihrer Anwesenheit. Pocht dein Herz, ist sie bei dir."
Leon wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Jasi?"
"Hm?"
"Macht Edda auch, dass dein Herz pocht?"
"Natürlich", sagte sie vollkommen überzeugt.
"Wie kann sie denn in meinem und in deinem Herz machen, dass es pocht?"
"Sie ist nicht mehr eine Person. Sie ist ganz viele Personen."
"Kann sie fliegen?"
"Klar. Und wenn du träumst, dann fliegt ihr bestimmt mal zusammen. Dann fliegen wir bestimmt alle mal zusammen. Mama, Papa, Edda, du und ich."
"Ja?"
"Ja."
"Dann will ich jetzt schlafen gehen, damit wir alle zusammen fliegen können."
Mara lächelte. "Dann geh jetzt schlafen, Hase."
"Fliegt Maurice auch mit?", fragte er im Türrahmen. Das Flurlicht enthüllte den Heiligenschein, der ihn umgab.
Mara lachte auf. "Vielleicht laden wir ihn ein. Mal sehen, was er sagt."
Leon tapste nochmal zu ihr zurück und gab ihr einen Kuss auf die Wange. "Hab dich lieb, Jasi." Dann ging er zum zweiten Mal und kam in dieser Nacht nicht wieder zu ihr unter die Decke gekrochen.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt