Mara verließ nur widerwillig das Bett und Maurice. Es war Montag, es war 6.30 Uhr, es war kein Kaffee im Haus. Frustriert klebte sie dem fest schlafenden Maurice ein Post-It auf die Stirn, auf dem genau das stand. Sie gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor sie ihren Rucksack schulterte und sich auf den Weg macte.
Die Berufsschule wirkte wie vertrautes Terrain. Sie war kaum anders gestaltet als Maras Gymnasium und sie fand das Klassenzimmer in unter fünf Minuten.
Die Lehrerin hatte ihren Englischkurs vor einer halben Stunde begonnen, da öffnete sich plötzlich die Tür und ein Mädchen betrat den Raum, zwei dampfende Pappbecher in ihren Händen.
Die Lehrerin, Frau Natosch, seufzte. "Mit Milch und ohne Zucker", sagte das Mädchen und stellte den zweiten Kaffee aufs Pult.
"Setzen Sie sich, Lilli."
Sie kam auf Mara zu und schaute sie fragend an, während sie ihre Tasche erwartungsvoll über dem Tisch baumeln ließ.
"Nur zu", meinte Mara und Lilli fiel neben sie auf den unbequemen Stuhl.
"Ich bin Lilli und verbringe jetzt mein drittes Jahr in diesem Kurs. Mein Englisch ist grottig. Wer bist du?"
"Mara. Erstes Jahr in diesem Kurs, schlimmer noch, erster Tag und ich mach 'ne Ausbildung zur Hotelfachfrau im Waldorf Astoria."
"Der schnieke Schuppen? Ganz schön nobel. Kannst du Englisch?" Lilli hatte eine Nagelfeile aus ihrer Tasche geholt und brachte vollkommen ungerührt ihre lila lackierten Nägel auf ein und dieselbe Länge.
"Hab mit 1,0 in dem Fach abgeschlossen", antwortete Mara.
"Ist dir klar, dass du damit die erste Person bist, die mich von den Qualen dieses Kurs' befreien könnte?"
"Lilli, verhalten Sie sich bitte weiterhin ruhig, Sie stören den Unterricht. Kann Ihre Nachbarin mir sagen, welche Zeitform ich in diesen Satz einzufügen habe, damit er korrekt an der Tafel steht?" Frau Natosch durchbohrte Mara buchstäblich mit ihrem strengen Blick.
"Present progressive", sagte Mara gelangweilt. Frau Natosch nickte überrascht.
"Weshalb nicht ganz normal Present?", fragte Lilli.
"Ist doch noch im Verlauf. While I'm reading, the telephone rings."
"Woran siehst du das?"
"While ist ein Indikatorwort."
"Du bist gut, bitte setz dich nicht weg von mir."
"Ich bin die Neue, setz du dich nicht weg von mir", betonte Mara.
Lilli streckte ihr ihre Faust entgegen und Mara gewährte ihr die Ehre.
Den nächsten Kurs musste sie ohne Lilli überstehen. Es handelte sich um Rechnungswesen, unterrichtet von einem ehemaligen, konfusen Mathematikprofessor der Beuth-Hochschule.
Frida schmiss sich sofort an sie ran und schien sich förmlich an Mara festzusaugen wie ein ekelhafter Riesenkrake.
"Du und Maurice von FIA also", sagte sie.
Mara versuchte gar nicht erst zu schauspielern. "Woher ...?", stotterte sie.
"Mein Bruder Carlo hat euch gesehen." Sie rieb ihr das Handy mit dem Foto unter die Nase.
Mara lachte. Wenigstens ihre Eltern hatten Humor.
"Was ist so witzig?" Fridas Augen verengten sich.
"Frida, Carlo."
"Hä?" Kunst muss sie geschwänzt haben, dachte Mara.
"Vergiss es ... Dann ist es so. Was willst du dagegen tun?", fragte Mara abwertend.
"Gar nichts, ich freu mich natürlich für euch. Aber nimm dich vor Wilma in Acht." Mit einem verschwörerischen Blick ging sie wieder. Da spielten sie sich gegeneinander aus. War ja klar. Freundschaft war relativ.
Mara zog wieder mal jeder Zentimeter ihres Körpers zu Maurice. Er hatte ihr geschrieben:Maurice D.: Ich hatte erwartet, ein Ich liebe dich auf meiner Stirn zu finden, stattdessen musstest du die Meckertante raushängen lassen.
Mara P.: Hast du Kaffee gekauft?
Maurice D.: Ja.
Mara P.: Dann hat die ganze Aktion ihren Zweck erfüllt. Mein letzter Block ist um 15 Uhr vorbei. Soll ich irgendwo hinkommen?
Maurice D.: Studio.
Mara P.: Bis dann.Der nächste Block, Wirtschaft und Soziales, ging schnell herum und ehe Mara sich versah, schleppte Lilli sie in die Mensa.
"Nicht der leckerste Fraß, aber auf alle Fälle das günstigste und gesündeste im Umkreis von drei Kilometern", kommentierte sie.
Es gab ein vegetarisches und ein fleischhaltiges Gericht, Mara entschied sich für das erste, Gemüseauflauf. Nicht, weil sie Vegetarierin gewesen wäre, sondern schlicht, weil das Fleisch im angeblichen Hühnerfrikassee alles hätte sein können.
"Was machst du so in deinem Leben?", fragte Lilli und füllte kostenloses Leitungswasser in zwei Gläser.
"Ich hab vor kurzem meine beste Freundin abserviert und jetzt 'ne neue, schweb auf Wolke Sieben und versuche mir keine Gedanken darüber zu machen, dass meine Mitauszubildenden zwei dämliche Bitches sind."
"Siehst du die beiden da drüben?", fragte Lilli und zeigte auf Wilma und Frida. "Die sind der wahre Deal. Gerade mal einen Tag hier und fangen an, Leute zu mobben."
Mara lachte. "Das sind sie."
"Wer?"
"Die Azubinen, die ihre Ausbildung zeitgleich mit mir absolvieren müssen."
"Mein Beileid." Lilli biss von ihrem Apfel ab.
"Was machst du so in deinem Leben?", fragte Mara.
"Ausbildung zur Eventmanagerin bei Studio 71. Affären mit zwei Kerlen, die beide vergeben sind. Das Übliche."
"Ist das nicht anstrengend? Muss man doch irgendwie sinnvoll koordinieren."
"Ich bin nicht umsonst Veranstaltungskauffrau. Ein Talent fürs Arbeiten unter Druck sollte man haben."
Mara wurde den Eindruck nicht los, dass Lilli unglücklich war ...
Maurice war mit Sinan trainieren gegangen. Jetzt teilten sie die große Couch in Maurice' Wohnbereich.
"Hat Mara Tarik schon ihre Freundin aus dem Kollektiv vorgestellt?", fragte Sinan.
"Auch interessiert?", lachte Maurice.
Sinan sagte nichts.
"Was ist?"
"Ich steh schon ewig auf sie. Jeanne und ich sind Freunde." Er versank zwischen den Kissen.
"Woher kennt ihr euch?", fragte Maurice ihn aus.
"Über 'ne andere Freundin. Und es ist einfach nur Freundschaft. Kein Plus."
"Sag's Tarik. Der lässt die Finger von ihr, mach dir da mal keine Sorgen."
"Mann, du verstehst das nicht. Wieso soll ich Tarik seine Chance vermasseln, wenn die Lage für mich sowieso aussichtslos ist?", seufzte Sinan.
"Wusstest du, dass sie Mara kennt?"
Sinan warf ihm einen kurzen Blick zu. Er war genervt davon, dass Maurice das Thema innerhalb von Sekunden wieder auf seine Freundin gerichtet hatte. "Nein", antwortete er. "Ich wusste nur, dass sie sprayt und das mit ein paar Leuten. Ich kannte Mara genauso wenig wie du."
Maurice merkte, wie angepisst er war.
"Komm. Wir fahren ins Studio", schlug er deshalb vor.
Sein Kumpel erinnerte momentan am ehesten an einen begossenen Pudel. Außerdem musste er noch texten, bevor Mara vorbeikäme und das wäre in zwei Stunden.
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Blau wie wir
RomanceMara war anders. Er mochte sie eben. Ihre weizenblonden Haare, wenn sie um sie wogten, ihre haselnussfarbenen Augen, die Stupsnase und ihr Lachen, wie das Klingeln feiner Glöckchen, das der Wind hervorkitzelte ... Maurice war anders. Sie mochte ihn...