"Du hasst ihn?" Das Telefonat mit Leo eben machte sie sprachlos.
Maras Stimme klang so erstickt, dass Maurice sofort aufblickte. Er hatte eines ihrer Bücher auf dem Schoß. Eines ihrer liebsten, Oliver Twist.
"Was?", vergewisserte er sich, ob er sie richtig verstanden hatte.
"Du hasst Leo?"
"Mara ..." Aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er konnte sie nicht belügen, auch wenn er Angst davor hatte, wie sie reagieren würde. Auf die Wahrheit.
"Was Mara?", drängte sie auf eine Antwort.
"Ja."
Stille.
"Wieso?"
In diesem Moment sah er die Achtzehnjährige und es gab nichts, das er dagegen tun konnte. Dieser kindliche Wesenszug, diese Fragerei brachte ihn um den Verstand.
"Weil er ... Er ist immer bei dir! Ich ... Womit hat er das verdient? Ich will bei dir sein; er macht es kaputt ..." Er hörte sich an wie das viel größere Kind.
"Bist du eifersüchtig?"
Und wie, dachte er, klappte den Roman geräuschvoll zu.
"Glaubst du nicht, dass Hass eine viel zu starke Emotion ist, um ... Na, um auszudrücken, wie du zu ihm stehst?" Sie saß auf der Kante ihres Schreibtischs und betrachtete nachdenklich den Fremden auf ihrem Bett, den sie ihren Freund nannte.
"Nein, es ... Wenn ich ihn sehe, dann empfinde ich das genaue Gegenteil von dem, was ich für dich fühle. Und das Gegenteil von Liebe ist Hass. Oder etwa nicht, krieg ich da was durcheinander?"
"Kein Eifersuchtsmotiv?"
"Doch, natürlich!", wurde er lauter. Was war so schwierig an dieser Erkenntnis? "Du müsstest ihn sehen. Wie er dich anschaut, das ist ... Ekelhaft."
"Wenigstens ist es bloß Leo", nuschelte sie. Erst dachte Mara, er hätte sie nicht gehört, jedoch erwiderte Maurice prompt: "Was willst du damit sagen?"
"Da laufen Weiber auf euren Konzerten rum, von denen ich inbrünstig hoffe, dass du sie nie kennenlernst", sagte sie. "Du hast das Groupie-Game auch schon gespielt, tu nicht so unschuldig."
"Das hab ich nie verleugnet. Aber das ist vergangen, es ist Geschichte. Leo, auf der anderen Seite, ist deine Gegenwart", klärte er seinen Punkt.
"Traust du mir eine Affäre zu? Mir? Aber dir nicht?", fragte sie bissig. Sie und Maurice betrügen. Diese Vorstellung: Einfach lächerlich.
"Das hab ich nie behauptet", verteidigte er sich automatisch. "Du warst wahnsinnig betrunken gestern, Leo hätte dich garantiert zu allem überreden können."
"Du warst nicht da!", beschuldigte sie ihn. "Vielleicht hätte ich sogar alles mit mir machen lassen, denn es wäre ja keiner da gewesen, der mich davon abgebracht hätte!"
"Ich warte doch nicht, bis du die Beine für ihn breit machst, schieb sie dann wieder zusammen und sage erst dann: Non, non, mon ami, laisse tomber. Dann ist es längst zu spät", schoss er zurück.
"Jetzt übertreib's noch. Bist du wirklich derart egoistisch, dass es dich juckt, wenn Leo und ich Zeit miteinander verbringen? Ich bin nicht dein Eigentum", echauffierte sie sich.
"Und ich bin nicht dein Eigentum!"
"Neun von zehn Frauen stoßen dich bestimmt nicht von der Bettkante, falls sich ihnen die Gelegenheit bietet, und du verklickerst mir gerade, dass es nicht in Ordnung ist, wenn ich mich mit Leo, wohlgemerkt ohne Hintergedanken, treffe?!"
"Wenn es so viele sind wie du sagst, warum fühlst du dich dann nicht geehrt?!"
Sie schnappte nach Luft, lachte bitter und in ihren braunen Augen glitzerten Tränen. "Nimm das zurück, bitte", flehte sie. "Ein Haufen Mädchen klebt dir am Arsch. Weil sich ein einziger Kerl für mich interessiert bist du geschockt?"
"Ich bin geschockt, weil du sorgloser bist, als ich es je für möglich gehalten hätte! Diese Mädchen -" Er setzte das Wort mit den Fingern in Anführungszeichen. "Die betreten auf keinen Fall meine Wohnung. Außer dir. Du bist eine von denen. Denn das ist, wo du herkommst, Mara: Aus der Crowd." Er wankte zu ihr, nahm ihr Gesicht zwischen seine Hände. "Du bist so faszinierend. Blöderweise in jede Richtung", sagte er sanft.
Als er losließ konnte Mara ihr Herz zersplittern hören. "Gehst du?", krächzte sie qualvoll. "Man darf nicht schlafen, wenn man sich gestritten hat", teilte sie ihm die Binsenweisheit ihrer Mutter mit. Diese Binsenweisheiten können doch nicht alles sein; dieses Der Anfang ist die Hälfte des Ganzen und so, da muss doch mehr sein, dachte sie.
"Ich komm wieder", meinte er.
"Wann?"
Er stoppte. "Weiß nicht", murmelte er, zog seine Jacke an und die Tür hinter sich zu ...
Mara weinte stumm, da klingelte es.
Der Postbote vielleicht.
Sie drückte auf den Summer und einige Sekunden danach klopfte es. Der fehlende Türspion erwies sich wieder mal als Manko der Wohnung.
"Na, ich wollte schwimmen gehen, kommst du mit?" Leos Grinsen verschwand, als er ihre geröteten Augen bemerkte.
"Nein, geh bitte." Sie wollte die Tür schließen, doch er stellte seinen Fuß dazwischen.
"Was ist passiert?"
"Leo, geh bitte einfach."
"Warte."
"Geh!" Sie trat mit voller Kraft gegen seinen Fuß und schlug ihm die Tür vor der Nase zu. Sank auf der anderen Seite auf die Erde.
Leo ahnte, dass es etwas mit Maurice zu tun haben musste. Langsam vermutete er, dass der gestern angesprochene Hass auf Gegenseitigkeit beruhte.
Mara hatte sich ihren Text überlegt. Aufgeschrieben, was sie aus Wut gesagt und gar nicht ehrlich gemeint hatte. Was sie ehrlich meinte und aus Wut gar nicht gesagt hatte.
Er musste wiederkommen. Sonst würde sie nicht schlafen. Aber er hatte nichts versprochen. Sie würde Nächte durchwachen, wenn nötig. Denn wenn sie sich schlafen legte, wäre alles zerstört. Dann gäbe es keine Chance mehr.
Also musste sie wach bleiben. Kaufte Cola, die ihr nicht schmeckte, mischte sie mit Kaffee, den sie mochte, spuckte die grausige Mixtur in den Abfluss. Wanderte rast- und ratlos auf und ab, zeichnete.
Maurice streifte umher, dachte daran, dass das Ziel im Weg war. Ihre Beziehung funktionierte nur, wenn sie nicht versuchten, sie am Laufen zu halten. Dann war Mara der Weg und das Ziel, dann war er so endorphinüberschüttet wie heute Morgen. Er war abhängig von ihr und - Er war bei der Charité. Irgendetwas hatte ihn auf leisen Schwingen hergetragen. Entschlossen trat er durch die Flügeltüren ins Krankenhaus ...
"Du musst wieder zu ihr gehen, sonst schläft sie nicht und sie muss doch morgen arbeiten", sagte Edda.
"Tut mir leid, dass ich hier einfach so reingeplatzt bin", entschuldigte Maurice sich.
Die Kleine drückte seine Hand. "Ist okay." Die Augen fielen ihr zu. Ob gespielt oder nicht; er ließ sie träumen.
Mara war wichtiger.
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Blau wie wir
RomansaMara war anders. Er mochte sie eben. Ihre weizenblonden Haare, wenn sie um sie wogten, ihre haselnussfarbenen Augen, die Stupsnase und ihr Lachen, wie das Klingeln feiner Glöckchen, das der Wind hervorkitzelte ... Maurice war anders. Sie mochte ihn...