27. Kapitel

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Maurice sah das Graffiti am nächsten Morgen. I'm so sorry, hatte sie in die Ecke über ihr Tag geschrieben. Die blaue Orchidee, oben links an den Rand gesprayt, war der Auslöser.
Maurice rannte los, erwischte die U-Bahn gerade so. Zwanzig Minuten später, klingelte er Sturm. Den Schlüssel hatte er, besonders schlau, zu Hause vergessen. Er erklomm die letzten Stufen, da schlangen sich ihre Arme auch schon wieder um seinen Körper.
"Jetzt wirf mich nicht gleich wieder die Treppe runter", lächelte er.
Sie schüttelte den Kopf, den sie an seiner Brust vergraben hatte. "Es tut mir so leid", hauchte sie.
"Ich weiß", meinte er sanft und schob sie vorsichtig, als wäre sie eine zerbrechliche Vase, zurück in ihre Wohnung.
"Es tut mir so leid", wiederholte sie.
"Ich liebe dich", sagte er.
"Ich liebe dich auch", erwiderte Mara atemlos. Sie hatte solche Angst gehabt, dass er ihr nicht verzeihen würde. Das auch noch vor der Tour, wo sie ihn dann sowieso mehr als einen Monat lang nicht sehen würde.
"Was bedeutet das, wenn du so sauer wirst?", fragte er. "Ich hatte keine Ahnung, was ich tun sollte, du warst wie ausgewechselt."
"Ja, ich weiß", murmelte sie reuevoll. "Ich glaube, es hatte sich eine Menge aufgestaut." Dann versank sie wieder in ihrer eigenen Welt. Dieser glasige Blick, mit dem sie ins Schlafzimmer ging. Maurice folgte ihr.
Mara griff nach der Schachtel Zigaretten, die er gestern hier hatte liegen lassen. "Ich hab so gut wie alle aufgeraucht, also wollte ich dir neue kaufen."
"Musst du nicht." Er nahm die Packung und stopfte sie in seine Hosentasche.
"Carol sagt, wir sollen das mit dem Streiten einfach nicht machen."
Er rümpfte missbilligend die Nase. Carol hatte weder ihm noch Mara irgendwas zu sagen. Mochte ja sein, dass die beiden beste Freundinnen waren, dennoch konnte Maurice für seinen Teil ganz gut auf Klugscheißer-Ratschläge verzichten. Er hatte am Telefon so trotzig reagiert, weil es ihn genervt hatte.
"Lass dir bitte nichts von Carol über Beziehungen einreden. Was kriegt sie denn schon selbst auf die Reihe, hm?", provozierte er.
"Maurice", bat sie ihn nur leise.
"Tut mir leid, aber du bist achtzehn, du brauchst keinen Ratgeber und schon gar nicht jemanden, der keine guten Erfahrungen gemacht hat."
"Maurice -"
"Schon gut!" Er rieb sich die müden Augen. Carol bereitete ihm Kopfschmerzen und nicht nur ihm. Kurt hatte Maurice mittlerweile berichtet, dass er immer verzweifelter wurde. Angeblich hatten sie zum zweiten Mal miteinander geschlafen und an ihrem zwischenmenschlichen Verhältnis habe sich, entgegen aller Erwartungen seinerseits, rein gar nichts geändert. Sie wohnten zusammen und konnten kein Wort miteinander wechseln.
Maurice erinnerte sich noch genau daran, wie Kurt ihm voller Stolz von Carol berichtet hatte. Die Kleine hat Schneid, Maurice, hatte er gesagt.
Gesehen hatte er sie zum ersten Mal, als er Mara mit in die WG genommen hatte.
Apropos Mara. Sie hatte ihn wieder in eine innige Umarmung verwickelt und sie zu halten, fühlte sich unglaublich gut an. Sie roch nach Creme. Ihre Augen waren geschlossen und Maurice war sicher, ihre Herzen pochten im selben Rhythmus.
"Kann ich dir meinen Lieblingsort zeigen?", wollte sie wissen ...
Es war der letzte heiße Tag in diesem Jahr. Sie liefen seit ein paar Minuten durch Pankower Parks. Wohin sie unterwegs waren, hielt Mara vor ihm geheim.
"Okay, dann bleib ich jetzt so lange hier stehen, bis du mir erzählst, was das Ziel ist", entschied er.
"Da kannst du warten bis du schwarz wirst, da vorne ist es nämlich."
Sie hüpfte fröhlich zu einem großen, eisernen Tor und verschwand durch den kleinen, offenen Eingang.
"Das war rassistisch", sagte er. Doch Maurice folgte brav und sah sich urplötzlich einem Riesenkarree gegenüber.
Es war ganz still. Nur das Rascheln des Windes in den Blättern. Blumenbeete und große Steinformationen säumten einen breiten Gang, der auf eine imposante Statue zulief.
"Was ist das hier?", fragte er.
Mara zeigte auf die Häuschen rechts und links von ihnen. "Ein Kriegsdenkmal, für die gefallenen, sowjetischen Soldaten im Ersten Weltkrieg." Er erkannte die kyrillische Schrift.
Sie zog ihn hinunter auf den eingekesselten Gang. "Das da hinten, die Statue, stellt die Mutter in der Heimat dar", erklärte sie.
Außer ihnen war niemand hier. An den Seiten nahm er Rasen wahr, vom Schatten der Bäume bedeckt. Duftendes, grünes Gras, frisch gemäht.
"Seltsamer Ort", sprach Maurice seine Gedanken aus.
"Ein seltsamer Ort für ein seltsames Mädchen", grinste Mara verschmitzt.
"Ich hab nie zuvor davon gehört. Wie viele Menschen das hier wohl insgesamt kennen?", rätselte er.
"Meine Mutter hat's mir gezeigt. Nach dem Tod meines Vaters war sie viel in Berlin auf Erkundungstour. Sie hat einige wunderschöne Orte gefunden, aber das hier ist meiner. Leon und Edda haben auch je einen. An denen war ich noch nie. Werde ich wohl auch nie hinkommen. Mamas eigener Ort ist das Grab von Papa."
"Ist das nicht eher ein bedrückender Ort?"
"Nein, gar nicht, dort ist es sehr hübsch und sie hat das Gefühl ihm nah zu sein", beschwichtigte sie ihn.
Maurice betrachte das Profil seiner Freundin. Sie schien von innen zu leuchten in dieser Arena. Vielleicht war es nur das Sonnenlicht, das den Eindruck erweckte. Ihre Haut golden schimmern ließ, ihre Augen intensiver färbte, ihr Haar mit Glanzreflexen versah. Jedenfalls konnte er sich ihrer Schönheit in jenem Kriegsdenkmal, an jenem Tage kaum entziehen.
Mara dachte lächelnd darüber nach, wie sie mit ihrem Refugium, Maurice, in ihrem Refugium, dem Kriegsdenkmal, stand. Das Schutzschild, das sie täglich um sich herum errichtete, war hier aus Panzerglas. Hinter der Scheibe nur sie und Maurice.
Sie stellte sich auf Zehenspitzen und küsste ihn. Es war so zart, Maurice hätte denken können, ein Schmetterlingsflügel streifte seine Lippen.
Er zog sie ganz nah an sich. Sie legte ihre Hände in seinen Nacken und ihre Leidenschaft übertrug sich auf den Kuss. Nichts auf dieser Welt fühlte sich so gut an wie Maurice Druger, befand Mara.
Wäre sie eine Droge, wäre er schon längst an einer Überdosis gestorben, schoss es ihm durch den Kopf. Für ihn war sie der Himmel auf Erden. Kein herabgestiegener Engel, sondern irgendwie aus ihrer eigenen Realität in seine gerissen.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt