45. Kapitel

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Wütend zerrte Mara Carol am Hemdsärmel.
"Hab dich nicht so", keifte ihre beste Freundin. "Hast du dir deine Wohnung mal angeschaut? Du musst das anzeigen."
Leo half Carol, indem er Mara in den Hausflur schob.
"Nein!" Sie trat fest gegen Leos Schienenbein. Er sog scharf die Luft ein, lockerte seinen Griff aber nicht ausreichend, sodass Mara ihm hätte entschlüpfen können.
"Wieso wehrst du dich so dagegen? Man könnte meinen, du wolltest deine Versicherung betrügen. Was ich dir nicht verübeln könnte, das sind alles Schweine dort, die dich abzocken."
Carol vertiefte: "Selbst wenn das der Fall ist, musst du den Einbruch anzeigen, sonst kannst du kein Geld kassieren."
"Ich bin nicht blöd, Carol, es geht nicht um Geld!", schrie sie ihre beste Freundin. "Er wird ihn umbringen, verdammt!"
"Warte, wer wird wen umbringen?", schaltete sich Leo ein.
Mara brach augenblicklich zusammen. Salzige Tränen benetzten erneut ihre Wangen.
"Was ist denn passiert?" Carol setzte sich im Schneidersitz vor ihr auf den Boden.
Nichts ergab mehr Sinn. Ihre Mutter hatte Mara erzählt, die Polizei hätte eine Spur. Wenn sie jetzt den entscheidenden Hinweis gab, vielleicht könnte sie Leon dann retten.
"Komm." Leo streckte ihr seine große Hand entgegen. Er zog sie auf die Füße.
"Wir müssen aufs Revier", schluchzte Mara.
"Auf einmal?", höhnte Carol, biss sich aber sofort auf die Zunge. Mara weinte; ihre Reaktion war absolut unverschämt.
Leo nahm Mara kurz in den Arm, bevor er sie die Treppen herunter auf die Straße bugsierte.
Von beiden Freunden auf jeder Seite abgeschirmt, trat Mara den Weg zur Wache an.
Sie erzählte den Polizisten alles. Von Anfang bis Ende. Die zwei Männer hörten sich ihre Geschichte geduldig an.
"Wissen Sie, wo Nick wohnt?", fragte der Ältere.
"Nein", nuschelte Mara.
"Kennen Sie jemanden, der es weiß?"
Natürlich. Chloe. Sie musste es wissen, sie erhielt den Kontakt zu Nick auch nachdem sich Mara von ihm getrennt hatte stets aufrecht.
Sie nannte den Polizisten ihren Namen.
Die Herren veranlassten den Einsatz eines Spezialkommandos.
Evelyn war ebenfalls zur Wache gekommen.
"Wieso hast du nie etwas gesagt?", warf sie Mara ihr Schweigen vor.
"Er hat gedroht ihn umzubringen", verteidigte sie sich verzweifelt.
"Aber du hättest doch wissen müssen, dass Nick keine Chance gegen die Polizei haben würde."
Carol räusperte sich. "Glauben Sie, das ist der richtige Moment für solche Anschuldigungen?" Sie strich Mara beruhigend über die Schulter.
Evelyn ließ sich auf die Wartebank fallen, dabei fuhr sie sich hektisch durch das lange braune Haar.
"Scheiße", murmelte sie erschöpft.
Maras Kopf sank auf ihre Schulter. Evelyn streichelte ihren Arm ...
Sechs Stunden vergingen. Es war mitten in der Nacht als ein abgemagerter Leon auf sie zu taumelte.
Sofort sprang Mara auf und schloss ihn in die Arme. "Es tut mir so leid", flüsterte sie.
"Das sollte es auch", meinte Leon. "Sieh mich an, Jasi. Ich bin nicht hier. Das ist nicht die Realität. In Wirklichkeit bin ich tot. Weil du dich nicht getraut hast, etwas zu sagen." Bei seinen letzten Worten vermischte sich seine Stimme mit der von Evelyn.
"Was?", fragte Mara fassungslos. Sie griff nach seiner Hand, doch seine kindlichen Finger lösten sich in Staub auf.
"Nicht Nick hat mich erschossen, Jasi. Du hast mich umgebracht."
Hinter ihm verschwand der Korridor der Polizeiwache. Ein schwarzer Abgrund tat sich auf.
"Nein!" Sie packte Leons andere Hand, doch auch diese zerfiel schlagartig in feinste Partikel.
Nach und nach zerfloss sein rundes Gesicht, schmolz davon wie Schnee in sengender Sommerhitze.
"Leon!", rief sie.
"Mara!"
Sie schreckte hoch und blickte in das vertraute warme Braun, welches Leos Augen kennzeichnete.
Er hielt ihr eine Tasse Kaffee entgegen. "Du hattest einen schlechten Traum, nicht wahr?", fragte er tröstend.
Mara antwortete nicht; sie sah sich nach ihrem kleinen Bruder um.
"Es ist vorbei", sagte Leo.
"Wo ist er?", fragte sie.
Leo senkte die Lider. "Sie haben ihn noch nicht gefunden."
Sie trank einen großen Schluck. Der Kaffee verbrannte ihr die Zunge, aber es war ihr egal.
Tick, Tack, Tick, Tack, machte die langweilige Uhr über ihren Köpfen.
Mara nickte trotz des starken Kaffees ein zweites Mal ein. Zum Glück traumlos, dennoch ständig unruhig. Als sie die Augen aufschlug, sah sie Carol auf Leos Schoß sitzen. Sie unterhielten sich leise und lächelten dabei konstant.
Sie schloss die Augen wieder und tat, als hätte sie es kein Stück mitbekommen ...
"Wir haben Schwierigkeiten, weil der Täter sich und das Opfer im Keller verbarrikadiert hat. Er sagt, er hat eine Waffe. Die Kollegen müssen das erst überprüfen. Solange kann der Einsatz nicht fortgesetzt werden. Wir wollen das Leben Ihres Sohnes auf keinen Fall gefährden", erklärte der Einsatzleiter Evelyn.
Mara erinnerte sich an die Witze, die Nick früher über Amerikaner und ihren Waffenwahn gemacht hatte. Sie hätte nie damit gerechnet, dass er sich selbst eines Tages eine Pistole zulegen und vor allem nicht, dass er damit Leon bedrohen würde.
Wie sehr man sich in Menschen täuschen kann, dachte sie ...
Maurice hatte einen guten Tag. Mara hatte ihn aufgeheitert, obwohl sie verschwunden war, ohne sich richtig zu verabschieden. Was sie mir wohl verschweigt, dachte er.
Es konnte nichts geringfügiges sein. Geringfügiges war geringfügig und Mara redete nicht häufig über Dinge, die nicht von Bedeutung waren. Andererseits ... Wenn es so schwerwiegend war, wie er annahm, würde sie es ihm nicht verschweigen, oder? Er war doch ihr Freund. Er sollte ihr beistehen ...
Sie erreichte ihn am Nachmittag auf dem Handy.
Er nahm sich die Zeit, auch wenn sein Tour-Manager ihn aufscheuchte, weil es nur noch zehn Minuten bis zu ihrem Auftritt waren.
Mara erzählte ihm alles, jedes kleine Detail.
Die Euphorie über ihre Ehrlichkeit paarte sich mit der Angst um ihren kleinen Bruder. Neun Jahre und von einem kranken Psychopathen entführt. Er betete für Leon, das tat er wirklich.
"Maurice? Bist du noch dran?", wimmerte Mara.
"Ja! Ja, bin ich ... Das ist furchtbar. Ich -"
"Nein", unterbrach sie ihn. "Spiel die Tour zu Ende. Und sag mir, dass alles gut ist, wenn wir uns wiedersehen."
Maurice schluckte.
"Sag es, bitte", bettelte sie.
"Wenn wir uns wiedersehen ist alles gut", hielt er sich an ihre Vorgabe.
Sie schwieg, atmete zitternd, aber erleichtert aus. "Okay."
Maurice legte auf.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt