30. Kapitel

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Der Abschied von Maurice, war der schmerzlichste, den Mara seit dem Tod ihres Vaters erfahren sollte.
Am Abreisetag wachte sie mitten in der jungen Morgendämmerung auf, verließ das Bett, das sie teilten, und sperrte sich im Bad ein, um bitterlich zu weinen.
Wie konnte sie das alles ohne ihn überstehen? Gar nicht, sagte eine fiese, quellenlose Stimme in ihr. Eher würde sie wieder anfangen, sich wehzutun ...
"Das ist die Nummer meiner Mutter." Maurice gab Mara einen kleinen Zettel, mit ihr zusammenhanglos erscheinenden Ziffern. "Bitte, wenn du Edda besuchst, dann geh auch zu ihr, sie kennt einen wirklich guten Psychologen", bat er sie. Ich hoffe zumindest, dass er gut ist, dachte er.
"Maurice", rief ihn Niko und trieb sie zur Eile an.
Er beugte sich runter und legte seine Lippen noch ein letztes Mal auf ihre. Er schmeckte ihre salzigen Tränen, all ihre Verzweiflung und den unvermeidbaren Abschied.
Geh nicht, wollte sie sagen, aber sie brachte keinen Ton heraus, krallte sich stattdessen schwach in den Stoff seines Shirts. Und trotzdem ging er und der letzte Baumwollrest entglitt ihren zarten Fingern.
Anderthalb Monate, pochte es in Maras Kopf. Stärker noch pochte es in ihrem geschundenen Herzen.
Maurice bemühte sich um ein ehrliches Lächeln, aber der Versuch misslang kläglich.
Der Bus fuhr fort und sie war nicht mal in der Lage ihm zu winken. Zu schwer fühlte sie sich ohne ihn ...
In der Charité fand Gabrielle sie schnell. Kaum hatte Mara sich mit ihrem Zeichenblock zu Edda gesellt, stand sie auch schon in der Tür.
"Hallo Mara", sagte Maurice' Mutter sanft.
Mara blickte auf und nickte ihr höflich zu. Zu mehr war sie nicht im Stande.
Gabrielle ließ sich neben ihr nieder. Sie hatte gedacht, Maurice würde maßlos übertreiben, als er ihr vom seelischen Zustand seiner Freundin berichtete. Hier sah sie mit eigenen Augen, dass dem nicht so war.
"Er hat mir nur gesagt, ich solle sie anrufen", brach Mara das Schweigen und die Frage danach, weshalb sie hier war, schwang in den Worten mit.
"Ich hoffe du bist mir nicht allzu böse, dass ich von selbst zu dir komme", entschuldigte Gabrielle sich. "Sie heißt Edda, nicht wahr?", fragte sie mit einem Blick auf das schlafende Mädchen. "Ein wirklich hübscher Name."
"Meine Mutter ist derselben Meinung, aber sie mag ihn nicht", plauderte Mara aus dem Nähkästchen und streichelte Eddas Hand. „Sie sagt, es klingt altmodisch."
"Weißt du, wenn du mit jemandem sprechen möchtest, ruf mich einfach an. Ich kenne jemanden, der darin wirklich gut ist, er kann dir bestimmt helfen. Wenn du willst, stelle ich ihn dir gleich vor, es ist nicht weit von hier, nur ein paar Stockwerke rauf mit dem Fahrstuhl; das dauert höchstens fünf Minuten."
Mara zögerte, dann schüttelte sie vehement den Kopf. "Ich bleibe lieber noch bei Edda."
"Wie du meinst." Aber Gabrielle hatte ihrem Sohn versprochen, auf Mara Acht zu geben, solange er nicht da war. "Ich komme später nochmal wieder."
Die Sketch, die entstand, zeigte Edda an den Schläuchen, im Hintergrund ein schwarzer Tunnel, der ins Nichts führte ...
Tarik und Sinan wechselten kein Wort miteinander. Anfangs hatte Tarik noch versucht eine Art Gespräch aufzubauen, aber mittlerweile war er es leid und hatte aufgegeben.
Maurice fühlte sich schrecklich verantwortlich dafür.
Niko fragte ihn nach einer halben Stunde, was los sei. Er erzählte von Jeanne und dem, was auf der Party passiert war.
"Sinan muss trotzdem klarkommen. Ich meine, wenn er nicht die Eier in der Hose hat, ihr zu sagen, was er will, ist es Tariks gutes Recht", überlegte Nico leise, um nicht die Aufmerksamkeit der beiden auf sich zu ziehen.
"Ich wusste davon. Ich hätte Tarik einfach verklickern sollen, dass sie tabu ist."
"Das ist doch nicht deine Schuld", widersprach Niko. "Du hast andere Sorgen. Dein Mädchen sah nicht gut aus, als du dich heute von ihr verabschiedet hast."
"Ihre Schwester wird sterben."
"Scheiße."
"Die eigentliche Scheiße ist, dass Mara selbstmordgefährdet ist."
"Du denkst, sie bringt sich um, jetzt, wo du weg bist? Das ist ziemlich hart, Maurice."
"Wenn ihre Schwester stirbt, steigt die Wahrscheinlichkeit."
Niko antwortete nicht mehr, sondern starrte seinen Freund aus großen Glubschaugen an.
"Ich schlaf 'ne Runde, ja?", sagte Maurice, lehnte seinen Kopf gegen die kalte Fensterscheibe und schloss demonstrativ die Augen. Mental aber war er wacher denn je ...
Mara erhielt eine Nachricht von Carol:

Carolin (Carol) B.: Ich glaube Klient hat was gegen mich.
Mara P.: Ich sitze bei meiner Schwester im Krankenhaus, können wir bitte ein Andermal darüber palavern? Es gibt wichtigeres.
Carolin (Carol) B.: Wieso hast du nichts gesagt? Welches Krankenhaus? Ich komm vorbei.
Mara P.: Lass mal ...
Carolin (Carol) B.: Welches. Krankenhaus.
Carolin (Carol) B.: ?
Mara P.: Ich will alleine mit ihr sein.
Carolin (Carol) B.: Bitte, Mara, vielleicht können wir reden.
Mara P.: Ich will aber nicht reden! Maurice ist weg und alles ist scheiße!
Carolin (Carol) B.: Du musst reden, Darling, wo seid ihr?

Mara ignorierte sie. Aber es trafen schon neue Nachrichten ein. Diesmal von Jeanne:

Jeanne D.: Marsea, ich glaube, ich habe einen Riesenfehler gemacht.
Jeanne D.: Hallo?
Mara P.: Auf der Party ist Marvin an Kilian vorbeigestürmt und hat ihn als Wichser bezeichnet. Was war da los?
Jeanne D.: Oh, bitte, ich hab eigene Probleme.
Mara P.: Echt? Ich auch. Meinen Freund sehe ich ab heute einen ganzen Monat nicht mehr und meine Schwester stirbt ... Bei dir so? Wirklich, erzähl davon, es interessiert mich brennend.
Jeanne D.: Deine Schwester?
Mara P.: Klient, Philian?
Jeanne D.: Mann, Marvin ist schwul und Philian macht ihm andauernd Hoffnungen. Ich hab ihm gesagt, er soll das gefälligst lassen, aber jetzt hat Klient sich verknallt und da haben wir den Salat ... Mara, was ist mit deiner Schwester?
Jeanne D.: Mara?
Jeanne D.: Mara, verdammt!

Sie hasste Menschen. Marvin machte sich aus Liebe zu Philian, dem Arschloch, kaputt, Carol fing anscheinend lieber was mit Philian, dem Arschloch, als mit Kurt an und Jeanne wurde zur Egoistin.
"Mara?", krächzte Edda schwach.
"Hallo Häschen", begrüßte sie sie.
"Wo ist Maurice?"
Mara kullerte eine Träne über die Wange. Ja, wo bist du?, dachte sie. "Er ist weggefahren, wegen seines Jobs", erklärte sie.
"Oh. Ist er lange weg?"
"Zu lange", nickte Mara. Weitere Tränen rannen ungebremst über ihre rosigen Wangen.
"Weinst du?"
Mara wischte sich das Gesicht mit einem ihrer Ärmel ab. Sie trug einen dünnen, pastellblauen Sweater mit V-Ausschnitt. "Ein wenig."
"Er kommt doch wieder."
Würde er das tatsächlich? Er war noch immer unwirklich. So plötzlich aufgetaucht, geblieben und nun genauso plötzlich wieder verschwunden.
"Na na, er ist ja nicht aus der Welt", ermahnte sie Gabrielles sanfte Stimme. "Das hier ist ein ordentlicher Tee aus dem Pausenraum der Mitarbeiter. Ich dachte, du könntest ihn gut vertragen."
Mara nippte am warmen Gebräu und hörte Gabrielles und Eddas Konversation zu.
Dabei dachte sie nach. Love and loss and the need to keep living.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt