29. Kapitel

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"Wir wollen zu Edda Plinta." Mara fuhr sich nervös durch die blonden Wellen.
"Sind sie Angehörige?" Die Empfangsdame kaute Kaugummi. Nikotinkaugummi, um genau zu sein. Mara erkannte die Packung. Dieselbe die Philian bei sich getragen hatte, als er erfolglos versuchte, das Rauchen aufzugeben.
"Ich bin ihre Schwester", besann sie sich gerade rechtzeitig.
Die Rezeptionistin neigte den Kopf skeptisch nach links. "Und er?", fragte sie mit einem prüfenden Blick auf Maurice.
"Er gehört zu mir", antwortete Mara.
"Tut mir leid. Nur Verwandte." Die Frau, mit den auberginefarbenen Haaren, wandte sich wieder ihrer Klatschzeitschrift zu, der Gala.
Mara steckte unauffällig etwas an ihrer Hand um. "Er ist Eddas Schwager." Zur Bestätigung hielt sie ihren Finger mit dem Ring hoch.
"Von mir aus", kapitulierte die Ältere. Offenbar hatte sie keine Lust, kurz vor ihrem Schichtwechsel - um 01:30 Uhr, wie der Dienstplan hinter ihr verriet - noch einen Streit mit jemandem zu beginnen. "Zimmer 103", rückte sie gelangweilt heraus.
In Maras Bauch fing es an zu rumoren. Ihre Mutter hatte so aufgelöst geklungen.
Maurice schlang im Gehen seinen Arm um ihre Taille, denn er bemerkte ihre Unsicherheit. "Es wird schon nicht allzu dramatisch sein", versuchte er sie zu beruhigen.
Doch da flackerte der schreckliche Gedanke in ihr auf: Was wenn ...? Oh Gott, natürlich, es konnte gar nichts anderes sein.
Hektisch stieß sie die Tür zu Zimmer 103 auf.
Evelyn saß mit Leon auf ihrem Schoß, auf einem winzigen Hocker. Edda belegte schweißgebadet das Bett.
"Jasi ist da", stupste Leon seine Mutter an.
Tränen rannen ihr wie Sturzbäche über das verquollene Gesicht. Die sonst so hübsche Floristin war an diesem verhängnisvollen Abend ein fürchterlicher Anblick.
Mara fühlte, wie sich auch ihre eigenen Augen unaufhaltsam mit Wasser füllten.
"Wie geht's dir, Häschen?" Ihre Stimme brach, während sie Edda eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht strich.
"Als würde ich in einem Vulkan ertrinken."
Maurice war unwohl. Die gesamte Situation ... Er passte hier nicht her, seine reine Existenz an diesem Ort war unangemessen. Er stank nach Alkohol und Zigarettenrauch. "Ich hol was zu trinken", nuschelte er und verließ eilig den Raum.
Am Automaten kaufte er Kaffee und Cola. Es würde eine lange Nacht werden, das spürte er instinktiv.
"Maurice, können wir ein Foto machen, bitte?" Die Kleine hatte ihn wirklich lieb darum gebeten und doch rastete Maurice vollkommen aus. "Nein, können wir nicht! Ich stehe in einem Scheißkrankenhaus, was denkst du, mache ich hier?! Kleiner Tipp: FIA gibt kein Konzert! Und jetzt verpiss dich!", brüllte er auf hundertachtzig.
Das Mädchen wich ängstlich zurück. Er bereute seine Worte sofort, als er sah, dass sie das typische, charakterlose Krankennachthemd trug. "Sorry", stotterte sie und rannte davon.
Maurice griff nach den Getränken und leerte seinen Becher in einem Zug.
Drecksberühmtheit, dachte er. Vielleicht hatte Mara recht gehabt in der U-Bahn damals und Anonymität stand als Gut über dem Rest. Er wollte nicht auf Tour übermorgen. Er wollte nicht ohne sie sein. Er wollte nicht mit Tarik und Sinan in einen Bus steigen und sich das Gezicke anhören müssen ... Maurice hatte das mit dem Krebs kapiert, als er Edda gerade gesehen hatte. Zwei Monate, schossen ihm Maras Worte wieder durch den Kopf. Von diesem Moment an tickte also die Uhr. Die Kleine würde sterben ...
Mara saß nun mit auf dem Bett ihrer Schwester. Ihre Mutter sagte nichts. Sie war bloß still und Mara hasste das. Wie konnte sie nur schweigen, wenn das, was Edda brauchte, tapfere Worte waren?
"Häschen, möchtest du eine Runde Karten spielen?", fragte sie.
Edda nickte angestrengt.
Mara kramte die Spielkarten hervor, mischte und verteilte. An Edda, Leon und sich selbst. Die glasigen Augen ihrer Mutter starrten ins Leere. In dieser Trance, wäre sie nicht in der Lage mitzumachen.
Maurice kehrte zurück. Seine Muskeln waren angespannt, sein Gesichtsausdruck wachsam. Fluchtreflex, dachte sie. Er warf Leon die Cola zu und reichte Evelyn sowie seiner Freundin einen Kaffee.
Die Plörre war lauwarm und schwach. Trotzdem war Mara dankbar.
Als sich herausstellte, dass Edda ihre Karten kaum festhalten konnte, weil ihre Hände so zitterten, hockte Maurice sich neben sie. "Komm, wir spielen im Team", bot er ihr an und nahm die Karten.
Edda nickte gleichgültig.
Nach sechs solcher Spielrunden, betrat eine Krankenschwester das Zimmer und teilte Evelyn mit, dass noch ein Mutter-Kind-Zimmer frei wäre.
Evelyn sah Mara an. Leon tat so, als interessierte ihn ein Brandfleck auf dem Boden sehr viel mehr.
Mara hatte eigentlich nicht genug Platz in ihrer Wohnung.
"Du schläfst heute Nacht bei uns, Leon", beschloss Maurice dennoch.
Evelyn lächelte matt, dann nickte sie der Krankenschwester zu.
Edda hatte die Augen geschlossen. Sie sah aus wie eine geliebte Puppe, fand Mara. Vorsichtig drückte sie ihr einen Kuss auf die Stirn ...
Maurice hatte Leon das Gästezimmer gezeigt, aber der Junge wollte lieber im Wohnzimmer auf der Couch schlafen. Ihm sollte es recht sein. Es war so egal, wo er pennte, Hauptsache, er war nicht allein ...
"Warum tust du das für mich?", fragte Mara, als Maurice tropfnass vom Duschen, ins Schlafzimmer taumelte. "Das ist zu großzügig."
Er legte sich neben sie. "Tu ich's für Edda oder für dich?", rätselte er. "Fakt ist, dass ich dich liebe. Es gibt unendlich vieles, das ich tun würde."
Er zeichnete Kreise auf ihren flachen Bauch.
Das Licht ging aus. Und Mara begann zu weinen. Nicht mehr als ein bebendes Bündel, presste sie sich gegen Maurice. Warum war das alles nur so unfair? Wieso konnten nicht Leute wie Philian sterben? Innerlich ohrfeigte sie sich selbst. Man wünschte keinem Menschen den Tod, nicht mal dem, den man nicht leiden konnte. Unfreiwillig reihte sie weitere Leute auf: Magnus, Finja und Wilma, Nick ...
Maurice küsste sie. Sie durfte nicht weinen, sobald er bei ihr war. So sollte das nicht sein. Er sollte Trost spenden, sie sollte fröhlich Lachen. Er fühlte sich so schuldig, obwohl er nichts für ihre Traurigkeit konnte und dieses Gefühl der Schuld zerriss ihn.
"Hör bitte auf", bettelte er mit kratziger Stimme und wischte ihr die Tränen von den Wangen. Wieder küsste er sie, diesmal leidenschaftlicher.
Ihr ganzer Körper zitterte unter ihm. Wie gerne sie nachgeben wollte, wie gerne sie friedlich eingeschlummert wäre.
Aber Mara wollte sich bloß ein Messer in ihr Herz rammen. Die Suizidgedanken waren wieder da.

Blau wie wirWo Geschichten leben. Entdecke jetzt